Auch dann nicht betrügen, wenn man sicher sein kann, nicht erwischt zu werden: Wer das tue, handle gut, sagt Immanuel Kant. Und er sei lebensklug, würde der Philosoph Otfried Höffe hinzufügen.
Im fortgeschrittenen Alter lässt Otfried Höffe, ein Anhänger der Philosophien von Kant und Aristoteles, Sympathien für den Existenzialismus erkennen. Dessen Kern sieht er darin, gegen die «Übermacht der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Welt» Einspruch zu erheben. Statt sich dieser zu fügen, komme es darauf an, das eigene Leben zu behaupten und zu führen und dafür die persönliche Verantwortung zu übernehmen.
Unter einem «freien Selbstsein» versteht der Weisheitsforscher aus München ein an moralischen Tugenden orientiertes Leben. Ein glücklicher und zufriedener Mensch könne gerade der sein, der andere fair behandle und auch dann nicht betrüge, wenn er sicher sein könne, nicht erwischt zu werden. Moral sei nicht Last und Hemmnis, im Gegenteil: Sie befreie und beflügle.
In einem wohlgeordneten Buch mit einem abschliessenden Kapitel über das «Weltweisheitserbe» gibt der Autor Weisheiten von sich, die zu einem rechtschaffenen und glücklichen Leben beitragen können. Weisheit sei die Höchstform der Klugheit und eine Kompetenz, die sich vor allem im Alter entfalte. Nur der Lebenserfahrene könne weise sein, nur derjenige, welcher Unglück, Niederlage und Scheitern erlebt habe.
Üben, üben, üben
Weisheit, stellt Höffe klar, setze keineswegs voraus, hochgebildet zu sein. Ganz ohne Bildung geht es für ihn allerdings auch nicht. «Das Mass der Lebensklugheit ist nicht proportional zur Höhe der Intelligenz.» Ein Handwerker könne genauso klug und weise sein wie ein Universitätsprofessor.
Höffe betont auch, dass Klug- und Weisheit zwar nicht lehr-, aber lernbar seien. Er übernimmt eine These der «Nikomachischen Ethik» von Aristoteles, wonach sich Tugenden, wie auch die Weisheit eine ist, nur entfalten können, wenn sie eingeübt werden. Tugendhaftigkeit setzt Training und Willen voraus.
Höffe nennt weitere Voraussetzungen: die Offenheit für Neues. Wer immer nur an Bewährtem festhält, ist nicht nur langweilig, sondern verschläft auch die Zeitenwenden, denen er sich nicht mehr angemessen zu stellen vermag. Weitere wichtige Eigenschaften sind Toleranz für andere Lebenshaltungen, emotionale Selbstkontrolle und Mitgefühl.
Tauglich werden für das Glück
Es mag klug sein, seinen eigenen Vorteil zu suchen, aber nach Höffe macht dies letztlich unglücklich. Das Streben nach Macht, Reichtum und Anerkennung sei glücksuntauglich. Glückstauglich hingegen sei es, sich vom sozial Üblichen loszusagen, nicht primär an sich selbst zu denken und sich in die Bedürfnisse von anderen einzufühlen.
Höffes «Kleine Philosophie der Lebensklugheit» sucht den Ausgleich, nicht die Konfrontation. Sie postuliert die unzeitgemässe Form einer Moral der Rücksichtnahme, der Gerechtigkeit und der Verständigung, weil deren Gegenteil das Leben unruhig und unausgeglichen mache.
Hinter Höffes Thesen steht die Annahme einer alle Kulturen und Epochen übergreifenden Weisheit. Der historische Blick zeige, so Höffe, dass zu allen Zeiten überall auf der Welt fast immer die gleichen Fragen gestellt, aber auch sehr oft ähnliche Antworten gegeben würden. Lebensklugheit lehre, Dinge von verschiedenen Seiten aus zu betrachten. Weise sei, wer sich nicht von anderen oder Dingen abhängig mache. Vorbilder seien wichtig, um weise zu werden. Darin sind sich christliche, islamische, chinesische, indische, koreanische oder altorientalische Weisheitslehren weitgehend einig.
Die Spinne wird nicht wütend
Für einen Philosophen eher unerwartet klingt Höffes These, eigentlich bedürfte es der Moralphilosophie nicht, wenn denn Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft zu Tugenden geworden wären. Höffe baut den Gedanken nicht weiter aus, aber führt die Moraltheorie damit zumindest in der Tendenz ad absurdum. Denn es wäre doch zu fragen, ob die moralische Praxis das Nachdenken über Moral nicht voraussetze.
Zu diesem theorieskeptischen Ton passt die Wertschätzung des Weisheitspotenzials in der Literatur und der Volksweisheit, die sich für Höffe etwa in Sprichwörtern artikuliere. Auch die Natur taugt zur Weisheit: «Wenn du einer Spinne das Netz zerreisst, wird sie nicht wütend, sondern repariert es und fängt von vorne an.»
Das Buch ist ein Kontrapunkt zum philosophischen Mainstream. Ausführlich ist von Tugenden die Rede, von Gewissen und Vorbildern, von kategorischen Imperativen. Die Lebenserfahrung und das Alter werden hochgehalten, auch der Freiherr von Knigge kommt kurz zu Wort. Nicht das Trennende, sondern das Verbindende zwischen den Menschen wird betont. In diesem Buch spricht ein klassisch gebildeter Vertreter einer humanistischen Philosophie, die nicht für sich in Anspruch nimmt, die Weisheit gepachtet zu haben, von der sich jedoch viel über die «Kunst der Weisheit» lernen lässt.
Otfried Höffe: Die hohe Kunst der Weisheit. Kleine Philosophie der Lebensklugheit. C.-H.-Beck-Verlag, München 2025. 237 S., Fr. 32.90.