Hanspeter Vochezer sieht die Manierlichkeit schwinden. Das beginnt im Kleinen, beim Duzen oder bei den Trainerhosen im Restaurant – und endet in Gewalt im öffentlichen Raum. Entwicklungen in einem gestressten Land.
An einem Tisch in einer bürgerlichen Beiz in Zürich sitzt an diesem Freitag ein älteres Pärchen, Status pensioniert, zufrieden wirkend, einander zugewandt. Ein feines Zmittag und eine Karaffe Wein vor sich. «Das ist wunderbar», sagt Hanspeter Vochezer, der die Szene ein paar Meter von seinem Sitzplatz sofort erfasst hat.
Das (gute) Benehmen ist Vochezers Domäne. Er ist der wohl bekannteste Knigge-Experte der Schweiz. Zudem vermittelt der 48-Jährige mit seiner Firma Swiss Butlers weltweit Personal in exklusive Privathaushalte. Er selbst arbeitete in Spitzenhotels und als privater Butler für die Familie von Gunter Sachs in den USA oder für Stars wie Queen Latifah und Quincy Jones. Vochezer weiss, was sich gehört. Und was nicht. Nochmals auf das Pärchen blickend, sagt er: «Dieses Innehalten, die Aufmerksamkeit füreinander, für den Moment, um ein paar glückliche Stunden zu erleben: Das gibt es fast nicht mehr.»
Die Zeiten sind rauer geworden. Es findet eine Entfremdung statt. Ein Rückzug ins eigene Reduit, in den Individualismus. Im öffentlichen Raum sorgt dies für viel Unmut. Und immer öfter auch für Gewalt.
Sind wir noch das anständige Land, als das wir uns immer gerühmt haben, Herr Vochezer?
Ich weiss es nicht. Ich bin etwas desillusioniert. Sie haben den öffentlichen Raum angesprochen. Es ist, im negativen Sinn, eindrücklich, was sich in kurzer Zeit verändert hat. Die Gewalt ist ein riesiges Problem. Dass die SBB ein spezielles Sicherheitsprogramm für ihre Mitarbeiter anbieten müssen, in dem diese lernen, wie sie sich wehren und verhalten sollen in brenzligen Situationen: Das ist doch unglaublich. Und nicht akzeptabel.
Dass das Personal am Abend oft von Sicherheitskräften begleitet werden muss, ist die wahrscheinlich heftigste Veränderung. Aber die Respektlosigkeiten beginnen doch schon viel früher?
Natürlich. Es scheint niemanden mehr zu interessieren, dass er nicht alleine auf der Welt lebt.
Äussert sich das etwa beim lauten Telefonieren im Zug?
Das geht noch viel schlimmer. Ich erlebe, wie Videokonferenzen abgehalten werden. Im Viererabteil. Und alle Teilnehmer sind auf Lautsprecher gestellt. Das ist nicht nur fürchterlich unanständig den Mitreisenden gegenüber, sondern auch gegenüber dem Arbeitgeber. Denn in solchen Gesprächen werden sorglos Zahlen genannt, Namen, alles vertrauliche Inhalte. Das geht nicht. Und das passiert nicht einfach dreimal im Jahr, sondern täglich in der ersten Klasse von Zürich nach Bern, auf der klassischen Pendlerstrecke, und retour. Was denken sich diese Menschen?
Nichts?
Offensichtlich nicht. Dass jemand nicht merkt, was er da tut, kann ich mir nicht vorstellen. Aber es ist offensichtlich vielen egal.
Was passiert, wenn Sie dieses Verhalten ansprechen?
Wie es heute oft ist: eine völlig verständnislose Reaktion. Und grosse Empörung. Dabei ist es doch so einfach: Im öffentlichen Raum haben wir doch klar definierte Spielregeln. Wir sind anständig miteinander, stören niemanden.
Wieso gelingt das nicht mehr?
Absolute Ignoranz und Selbstüberschätzung. Das hat enorm zugenommen, warum, weiss ich nicht. Auch mir fehlt deshalb manchmal die Kraft, bei unflätigem Verhalten einzugreifen. Man hat dann resigniert. Weil es meistens nichts bringt. Vielleicht sogar gefährlich werden kann. Kürzlich hat mir eine Kundin, eine etwas ältere Frau, erzählt: «Herr Vochezer, ich sage nichts mehr, wenn ein junger Mann neben mir die Füsse mit den Schuhen auf den Sitz legt.» Weil sie Angst hat, geschlagen zu werden. Ich verstehe das. Das liegt auch nicht an fehlender Zivilcourage. Das ist ein reales Risiko. Wo sind wir denn?
Immer noch in der Schweiz. Wo orten Sie die Gründe für diese Verrohung?
Die Schweizer sind gestresst. Sie sind müde. Wir hatten viele Jahrzehnte Friede, Freude, Eierkuchen. Nun ist seit fünf Jahren Ausnahmezustand. Zuerst kam Corona und danach, kaum war die Pandemie bewältigt, der Angriffskrieg in Europa. Das hat viele geschockt, weil sie nicht daran geglaubt hatten, dass das passieren könnte. Es war naiv, vielleicht sogar dumm, dass man einen Krieg einfach für unmöglich gehalten hat. In der verwöhnten Schweiz hat das alles verändert.
Was?
Es geht vor allem ums eigene Portemonnaie. Die Menschen haben weniger Geld. Der offizielle Warenkorb zur Berechnung der Teuerung ist falsch zusammengestellt, die Kaufkraft sinkt dramatisch. Trotzdem muss die Bevölkerung immer mehr liefern. Das macht unzufrieden, wütend. Ich kann das nachvollziehen. Die Politik lügt uns an. Es heisst immer, dass wir mehr Einnahmen brauchten. Das stimmt doch nicht. Wir brauchen nicht noch mehr Unternehmen und Zuwanderung. Es ist einfach ein Fakt: Jeder zusätzliche Zuwanderer mindert unsere Lebensqualität.
Ausgerechnet Sie, als Mister International, beklagen die Zuwanderung?
Es braucht diese Ehrlichkeit. Immer mehr geht nicht. Auch nicht bei den Menschen, die in der Schweiz leben. Wir müssen mit den Fixkosten runter. Das ist der Grund, warum die Leute die Lust verlieren, sich Mühe zu geben. Die Schweizer Bevölkerung, egal mit welchem Pass, ist sehr engagiert. Aber wenn es sich nicht mehr lohnt, geht man die Extrameile nicht mehr.
Sind es nicht vermeintliche Vorbilder, etwa aus der Politik, die das Verludern begünstigen?
Ich gebe Ihnen recht: Die Politik ist sehr rau geworden. Die Sprache müsste anständig bleiben. Klar, pointiert darf sie sein, aber wenn ein Spitzenpolitiker «Fuck you, Mister Trump» twittert, dann sendet er auch ein Signal. Dass es okay ist, dass man so spricht. Nun könnte man sagen, vielleicht hat er damit ja recht, aber ist es zielführend? Natürlich nicht. Die Politiker reflektieren nicht mehr. Sie denken nicht mehr nach, bevor sie etwas sagen. Weil sie immer sofort reagieren wollen.
Ist das nicht verständlich?
Heute scheint das normal zu sein. Immer erreichbar, immer online. Aber sehen Sie: Bekommen Sie sofort eine Antwort, ist sie oft unüberlegt. Oder man bekommt gar keine mehr. Das ist unanständig. Warum sagt man bei einer Anfrage nicht einmal: «Besten Dank, aber ich brauche noch ein bisschen Zeit»? Das hat Stil. Weil das Gegenüber weiss, dass da noch etwas kommen wird.
Ist diese ständige Verfügbarkeit die Folge des Handykonsums?
Ja. Die Menschen sind nonstop an ihren Geräten.
Wenn Sie sagen, dass wir ohnehin schon unter Stress stehen – warum sind wir dann in freien Momenten auch noch am Handy?
Weil es ablenkt. Die Algorithmen sind ein Geniestreich der Tech-Unternehmen, aber verheerend in der Konsequenz. Wir lassen so die eigenen Gedanken nicht mehr zu. Kein Kopflüften. Das macht müde. Der Kaffee, den wir gerade miteinander trinken? Den muss man geniessen. Aber viele machen das nur noch nebenbei. Das frustriert. Heute wollen die Menschen überall sein, aber am Ende sind sie nirgends.
Das zeigt sich auch bei einem Spaziergang durch die Stadt. Es regnet in Strömen. Vochezer, der Stilprofi, hilft aus, da man seinen Schirm vergessen hat. Er leitet gleichzeitig galant den Weg. Überall fällt ihm ein Detail auf, über das er etwas erzählen kann. Das wird besonders deutlich, wenn man die anderen Menschen beobachtet. Teilnahmslos hasten sie vorbei, der Blick abwesend – oder aufs Handy gerichtet. Aber etwas beschäftigt Vochezer weiterhin, er ist verärgert.
Es geht um die moderne Bar, in der das Gespräch spätmorgens gestartet hatte. Sie war laut, was für ein Interview nicht optimal ist. Aber das ist es nicht, was Vochezer beschäftigt, es ist eine Umgangsform, die auch in der Schweiz grassiert. Die Duzis-Kultur.
Ist das nicht ein Zeichen dafür, dass wir etwa doch aufmerksam sind, auch fremden Menschen freundlich, kollegial begegnen?
Nein! Die Du-Kultur ist oft eine Möchtegern-Lässigkeit, um moderner zu wirken. Um sich der Generation Z anzubiedern. Ich will nicht, wie vorhin in der Bar, hören: «Hoi zämme, was wänder?» Was duzt der Kellner uns? Ich find es komplett daneben. Mit einem Sie kann ich hofieren. Monsieur, was darf ich Ihnen bringen, darf ich Ihnen etwas Gutes tun? Grand-Hotel-mässig.
Das Du hört man jedoch mittlerweile überall, auch bei den Banken.
Das ist mit unserer Kultur in Europa nicht vereinbar. Das ist Bullshit. Die Politik und auch vermehrt die Wirtschaft sind nicht mehr die Vorbilder, die unsere Gesellschaft brauchen würde – und wir benötigen sie dringend!
Warum fehlen in der Wirtschaft diese Vorbilder?
Weil sich das fehlende Benehmen und der fehlende Anstand in der Gier vieler Manager äussern. Sie müssten vorausgehen, aber tun dies nicht. Das sind keine Leader – und eben auch keine Vorbilder mehr. Viele schauen nur auf sich.
Wie konnte sich das entwickeln?
Es gibt weniger unternehmergeführte Firmen. Das Sagen haben angestellte Spitzenkräfte. Diese sind weniger verbunden mit der Firma. Zudem versagen die Verwaltungsräte. Schauen Sie auf die CS. Wie kann man zuschauen, wie die Manager eine Weltfirma an die Wand fahren? Diese Verantwortungslosigkeit ist unanständig. Man darf sich nicht wundern, wenn die Menschen der Wirtschaft nicht mehr vertrauen. Oder, wie man jetzt sieht, im Kleinen ähnlich verantwortungslos und egoistisch handeln.
Fehlen Patrons?
Ja! Früher, als ich etwa meine Ausbildung gemacht habe, sagten wir noch: «So wie der Chef wollen wir auch einmal werden.» Wer will heute noch so werden wie der Chef? Eine Studie besagt: keine 10 Prozent. Das ist eine Katastrophe. Das hat auch etwas mit der Ausbildung zu tun. An den Universitäten werden die Fakten gelehrt, das ist entscheidend, natürlich, aber es ist nicht alles. Die Soft Skills spielen keine Rolle mehr. So entsteht kein Wertekompass. So weiss niemand mehr, was Leadership heisst. Ein Beispiel.
Bitte.
Ich vermisse Patrons wie Hayek. Der entlässt nicht einfach wahllos Mitarbeiter, wenn es einmal nicht so gut läuft – sondern er hält an seinen Fachkräften fest, da es eben seine Fachkräfte sind. Das ist gelebte Verantwortung. Weil es anständig ist. Und dieser Anstand wird in der Firma weitergetragen. Passiert das nicht, verludern die Sitten.
Ein Trend, der auch vor dem Nachwuchs nicht haltmacht. Seit letztem Jahr gibt es Knigge-Kurse für Lehrlinge.
Ich muss festhalten – das trifft längst nicht auf alle zu, aber es ist wahr: Bei vielen ist es so, dass die Manieren schlechter geworden sind. Für die Betriebe ist es schwierig. Mit unserem einmaligen dualen Ausbildungssystem halten sie die Wirtschaft am Laufen, sie geben den Jungen Halt. Ihnen Anstand beizubringen, ist eigentlich nicht ihre Aufgabe. Aber jemand muss es tun.
Eltern, Schulen, Betriebe: Alle scheinen überfordert.
Das ist so. Das zeigt sich schon bei der Kleidung.
Kaputte Jeans? Trainerhosen?
Ja. Die Löcherjeans sind gottlob aus der Mode. Man hätte jeden, der diese im Büro anzog, sofort rausschmeissen müssen. Die Trainerhosen sind ganz schlimm. Es ist ja mittlerweile Standard, dass man diese sogar im Restaurant trägt. Wir sind doch nicht im Fitnesscenter. Unverschämt.
Muss ein Lokal das nicht akzeptieren?
Man könnte ja als Gastgeber auch sagen: «Ich glaube, wir sind nicht das richtige Restaurant für Sie.»
Dann geht der Gast doch einfach woanders hin.
Wenn er überall hofiert wird, nur weil er mit dem Mercedes G-Klasse kommt, hat’s die einzelne Beiz schwer. Das finde ich schade. Jeder Mensch ist eine Superpower. Würden alle nicht mehr in eine Bar gehen, in der geduzt wird, müsste sie zumachen. Und wenn ein Gast in Trainerhose nirgends bedient würde, käme er nicht mehr in der Trainerhose.
Würde das nützen? Gerade die Generation Z gilt als anspruchsvoll. Die würde sich das doch nicht mehr gefallen lassen.
Ja, die Jungen sind kritischer. Aber das ist zweischneidig. Auf eine Art ist es gut, Fridays for Future zum Beispiel. Die hatten eine grosse Kraft. Mit berechtigten Anliegen. Aber die Bewegung hat es verpasst, den richtigen Weg zu gehen. Sie hat selbst nicht so gelebt. Man hat den Abfall liegenlassen nach der Demo, weil der Aperol Spritz beim Apéro gewartet hat – dann gings mit Easy Jet in die Ferien. Das ist heuchlerisch. Und natürlich: unanständig.
Jeder schaut für sich, auch wenn man die Welt retten will?
Genau. Niemand fragt sich mehr, wie wir miteinander umgehen. «Kann ich Ihnen mit dem Koffer helfen?» – «Wissen Sie schon, was Sie trinken wollen?» Das sind einfache Fragen. Aber sie sind das Schmiermittel der Gesellschaft. Diese kleinen Aufmerksamkeiten, die einen grossen Unterschied machen: Sie fehlen.
Lässt sich das wieder korrigieren?
Ich weiss es nicht, aber ich hoffe es. Im Vergleich zu anderen Ländern kann man in der Schweiz immer noch etwas werden, wenn man sich Mühe gibt. Aber wir müssen wieder dienstleistungsbereiter werden. Freundlicher. Und nicht alles kontrollieren wie ein Buchhalter Nötzli. Sonst wird das Klima noch rauer, unangenehmer. Und logischerweise auch unanständiger.