Die USA gelten als älteste Demokratie der Welt, die Schweiz folgt nicht weit dahinter. Zwar legt die Forschung nahe, dass sich Demokratien über die Zeit durchaus festigen. Doch die Entwicklung in Amerika zeigt: Alter allein ist kein Garant für Stabilität.
Das Jahr 2024 ist ein ganz besonderes für die Demokratien dieser Welt. Es ist nämlich ein Superwahljahr. Nach Urnengängen unter anderem in Indien und diversen EU-Ländern steht demnächst die Präsidentschaftswahl in den USA an – die älteste der modernen Demokratien überhaupt. Doch auf das Alter einer Demokratie sollte sich nicht verlassen, wer sich um Stabilität und Lebensqualität sorgt. Viel wichtiger ist die Frage, ob ein Land auch gereift ist.
Von Reifung und Alterung im Kontext eines Landes zu sprechen, das wirkt auf den ersten Blick intuitiv. Aber ist es auch legitim? Einige mögen sich vielleicht noch an die Provokation des Künstlers Ben Vautier erinnern. Er proklamierte 1992 an der Weltausstellung in Sevilla: «La Suisse n’existe pas.» Kann ein solches imaginäres Gebilde überhaupt altern oder reifen?
Institutionen entscheiden über Wohlstand
«La Suisse n’existe pas.» Dieser Satz hallt bis heute nach – und er führt in die Irre. Natürlich sind gerade Liberale bei kollektiven Identitäten wie «der Nation» von Natur aus vorsichtig. Für sie steht immer der freie und selbstverantwortliche Mensch im Zentrum. Was die Schweiz ausmacht, das sind die 9 Millionen Menschen im Land. Doch bei genauerem Hinschauen wird deutlich: Die Schweiz, sie existiert. Unsere Gesellschaft ist mehr als die Summe von 9 Millionen Individuen, und zwar wegen funktionierender Institutionen.
Institutionen sind es, die am Ende bestimmen, ob ein Land altert oder reift. Dieser Gedanke steht auch im Zentrum des diesjährigen Wirtschaftsnobelpreises. «Why nations fail.» So lautet der Titel eines Buchs von Daron Acemoğlu und James A. Robinson. Das sind jene beiden Ökonomen, die zusammen mit Simon Johnson vor knapp drei Wochen von der Schwedischen Zentralbank den begehrten Preis erhielten. Warum scheitern Nationen? Die Antwort liege in den Institutionen, so die Nobelpreisträger.
Acemoğlu und Robinson unterscheiden dabei in einem liberalen Geiste zwischen zwei Arten von Institutionen: Inklusive Institutionen sorgen dafür, dass sich alle Individuen und alle Unternehmen optimal entfalten können. Extraktive Institutionen hingegen dienen dem Wohle kleiner Gruppen – auf Kosten der breiten Bevölkerung. Wer sich nun mit der Schweiz auseinandersetzt, erkennt rasch: Diese ausgezeichnete Forschung ist auch für unser Land relevant.
In der Altersvorsorge dominieren Partikularinteressen
So haben etwa Bund und Kantone Schuldenbremsen eingeführt. Damit kann sichergestellt werden, dass heutige Generationen nicht auf Kosten künftiger Generationen leben – es sind inklusive Institutionen. Auch sind gewisse bestehende Institutionen mit den Jahren gereift und inklusiver geworden. Ein Beispiel dafür ist das duale Bildungssystem. Mit der Einführung von Fachhochschulen wurde dieses weiterentwickelt, um der Komplexität der heutigen Arbeitswelt besser gerecht zu werden. Gleichzeitig wurde die Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Abschlüssen gefördert, was die Bildungsmobilität erhöht hat.
Bei anderen Schweizer Institutionen ist ein solcher Reifeprozess hingegen ausgeblieben, so etwa bei der Altersvorsorge. Gerade dieses Jahr hat das wieder gezeigt: Weder wurde mit der 13. AHV-Rente der Nachhaltigkeit dieses Sozialwerks Rechnung getragen, noch wurden in der beruflichen Vorsorge Reformen in Angriff genommen. In diesem Kontext kann man zumindest teilweise von extraktiven Institutionen sprechen. Denn fehlende Generationengerechtigkeit bedeutet letztlich, dass eine Altersgruppe systematisch gegenüber jüngeren Kohorten bevorteilt wird.
Die USA sind ein abschreckendes Beispiel
Nicht nur in der Schweiz setzen sich gewisse politische Akteure immer unverfrorener für ihre Partikularinteressen ein. Das ist ein Problem. Es gilt sich klar der Tendenz entgegenzustellen, Institutionen zunehmend extraktiv zu gestalten. Macht sich nämlich erst einmal das Gefühl breit, dass ausgewählte Gruppen systematisch bevorteilt werden, dann zersetzt das nach und nach die politische Kultur – interessanterweise steht gerade dieses Wechselspiel von Kultur und Institutionen im Zentrum der neusten Forschung der Nobelpreisträger Acemoğlu und Robinson.
Dass das nicht einfach graue Theorie ist, dürfte all jenen bewusst sein, die über die vergangenen Wochen den Wahlkampf in den USA verfolgt haben. Gegen die dort zu beobachtenden Entwicklungen ist auch die Schweiz nicht gefeit. Inklusive Institutionen müssen stets aufs Neue verteidigt werden. Sonst ist der Staat bald nicht mehr eine ordnende Kraft im Hintergrund. Vielmehr wird er je nach politischer Perspektive nur mehr als Erfüllungsgehilfe eigener Interessen oder als Bereicherungsinstrument anderer Gruppen gesehen – ein Land reift dann nicht mehr, sondern es beginnt zu altern.
Jürg Müller ist Direktor des Think-Tanks Avenir Suisse.
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