Zahlreiche Deutsche erblicken in der Ukraine keinen vollwertigen Nationalstaat mit eigener kultureller Tradition. Viele Ukrainer werfen den Deutschen einen «Russland-Komplex» vor, in dem die Ukraine gar nicht vorkomme. Genau in diese Lücke stösst ein neues Buch.
Obwohl die Ukraine im 21. Jahrhundert zum dramatischsten Schauplatz der europäischen Geschichte wurde, ist das westliche Wissen über dieses Land immer noch überschaubar. Der Berliner Historiker Andrii Portnov hat es unternommen, auf gedrängtem Raum die wichtigsten Aspekte der ukrainischen Kulturgeschichte zusammenzufassen. Entstanden ist ein Standardwerk, das von der Höhe des aktuellen Forschungsstands aus eine allgemeinverständliche Darstellung bietet.
Portnov arbeitet nicht nur kompetent die multikulturelle Vergangenheit der Ukraine auf, er zertrümmert auch einige nationalistische Mythen. So bezieht er keine Stellung im Streit um das historische Erbe der Kiewer Rus (der Begriff stammt erst aus dem 19. Jahrhundert), sondern rekonstruiert die historiografischen Debatten. Portnov hält es mit dem Exilhistoriker Ivan Rudnytsky und stellt fest, dass der mittelalterliche Staat der Kiewer Fürsten weder ukrainisch noch russisch war – genauso wie der Staat Karls des Grossen weder deutsch noch französisch war.
Eine innere Kolonie Russlands?
Bei Portnov ist die Kosakentradition keine angebliche Frühform einer demokratischen Ukraine, sondern eine soziale Organisation, der später eine eigene Staatlichkeit zugeschrieben wurde. Sein Buch beantwortet auch die vieldiskutierte Frage, ob die Ukraine eine innere Kolonie Russlands gewesen sei, auf differenzierte Weise: Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezeichneten Ökonomen die Ukraine als «Kolonie», die ausgebeutet werde. Allerdings gab es auch Gegenstimmen, die auf die kulturelle Nähe der Ukraine zu Russland und die politischen Aufstiegsbiografien aus der Ukraine verwiesen.
Portnov setzt in seinem Buch einen besonderen Akzent auf die multikulturelle Prägung der Ukraine. Er zeigt das asymmetrische Gedächtnis im polnisch-ukrainischen Verhältnis auf. In Polen werden die westukrainischen Gebiete als Teil der eigenen Nationalgeschichte gesehen, während aus ukrainischer Perspektive die Polen oft als Unterdrücker gelten.
Russland schwankt bis heute zwischen einem nationalen und einem imperialen Staatskonzept. Sogar die meisten russischen progressiven Denker kritisierten zwar die zaristische oder sowjetische Regierung, hatten aber kein Gehör für ukrainische Anliegen.
Von katastrophalen Ambivalenzen war das ukrainisch-jüdische Verhältnis geprägt. Immer wieder kam es zu Pogromen. Ukrainische Nationalisten beteiligten sich am Judenmord der Nazis. Gleichzeitig gab es zahlreiche Ukrainer, die unter Todesgefahr ihre jüdischen Mitbürger versteckten und retteten.
Zwischen Wald und Steppe
Schliesslich diskutiert Portnov die kulturelle Kontaktzone der «grossen Grenze» zwischen Wald und Steppe, zwischen nomadischer und sesshafter Landwirtschaft, zwischen Christentum und Islam. Die Sonderstellung der Krim hat hier ihren Ursprung. Anders als der Kreml behauptet, gehört die Krim nicht einfach zu Russland, sondern wurde über Jahrhunderte von Krimtataren, Osmanen, Karaiten und Krimtschaken geprägt.
Andrii Portnov schliesst seine Darstellung auf einer kritischen Note. Gerade in Deutschland gab es immer wieder Initiativen, ukrainische Themen in den öffentlichen Diskurs einzuspeisen. Allerdings konstatiert Portnov Defizite auf beiden Seiten: Zahlreiche Deutsche erblicken in der Ukraine keinen vollwertigen Nationalstaat mit eigener kultureller Tradition, und viele Ukrainer werfen den Deutschen einen «Russland-Komplex» vor, in dem die Ukraine gar nicht vorkomme. Portnovs Buch füllt genau diese Lücke.
Andrii Portnov: Ukraine-Studien. Einführung. Nomos-Verlag, Baden-Baden 2025. 170 S. Fr. 33.90.