57 junge Menschen kamen vor einem Jahr bei einem Zugunglück ums Leben. Die Angehörigen hadern mit der Aufarbeitung durch die Politik – und einem Gesetz, das griechische Politiker immun gegen Strafverfolgung macht.
Ein Jahr liegt das schwerste Zugunglück in der griechischen Geschichte zurück. Beim Zusammenstoss eines Personenzugs mit einem Güterzug waren am 28. Februar 2023 in der Ortschaft Tempi 57 Personen ums Leben gekommen. Die meisten Opfer waren Studentinnen und Studenten, viele keine 20 Jahre alt. Die Opfer wurden beim Zusammenprall zerquetscht und durch den entstehenden Brand teilweise bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. 85 weitere Passagiere wurden bei dem Unglück in Mittelgriechenland auf der Strecke Athen–Thessaloniki schwer verletzt.
Die Aufarbeitung des Unglücks kommt nur schleppend voran – und sie untergräbt das ohnehin geringe Vertrauen der Bürger in den griechischen Stadt weiter. Am Montag endete ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss mit einer Sitzung, in der jede Partei ihre eigenen Schlussfolgerungen vorlegte und sich die Abgeordneten in die Haare gerieten. Für die Opposition steht fest, dass die Regierung ihre Verantwortlichkeiten beim «Verbrechen von Tempi» vertuschen will. Der Syriza-Chef Stefanos Kasselakis schrieb: «Zement auf den Ort des Verbrechens, Zement auf die Verantwortlichkeiten.»
«Zement» ist eine der vielen Ungereimtheiten des Unglücks. Denn die Unfallstelle wurde wenige Stunden nach dem Zusammenstoss komplett geräumt, die Erde abgetragen und der Ort mit Zement zugeschüttet. Das ist für jeden Ort eines Unglücks oder Verbrechens ein ungewöhnlicher Vorgang, schliesslich können so allfällige Beweise vernichtet werden. Während die Regierung behauptet, Feuerwehr und Polizei hätten dies auf eigene Faust entschieden, glauben die Angehörigen der Opfer, dass der Befehl dazu von der Regierung kam. Sie glauben, der Güterzug habe illegale Fracht an Bord gehabt.
Da die Angehörigen den staatlichen Ermittlern vorwarfen, Zeit zu verschwenden und wichtige Beweise zu übersehen, engagierten sie eine eigene Expertenkommission. Diese fand am Unglücksort an mehreren Stellen Xylol, das unter anderem als Zusatz in Treibstoffen verwendet wird und nach Meinung der Experten nicht in solch einem Güterzug hätte transportiert werden dürfen. Dies würde auch die Explosionen und den Brand nach dem Zusammenstoss erklären. Die griechische Bahngesellschaft OSE behauptet, der Zug habe nur Bier, Gemüse und Stahl geladen gehabt. Videoaufnahmen von der Beladung des Zuges in Thessaloniki, die Aufschluss geben könnten, wurden kurz nach dem Unfall gelöscht.
Mittlerweile halten zahlreiche griechische Medien bis ins konservative Spektrum hinein die Vorwürfe, die zunächst als Verschwörungstheorien abgetan worden waren, für glaubwürdig. Laut einer repräsentativen Umfrage von vergangener Woche sind 77 Prozent der Bevölkerung überzeugt, dass die Regierung etwas zu vertuschen versuche. Die Regierung tue nichts, um die Vorwürfe aufzuklären oder zu entkräften.
Auch an der «umfassenden Untersuchung» des Parlaments gibt es seit langem Kritik. Dort geht es nur am Rande um den konkreten Vorfall in Tempi, stattdessen wird die Geschichte der griechischen Eisenbahn seit den Anfängen abgehandelt. Die Ausschussleitung setzt sich ausschliesslich aus Vertretern der konservativen Regierungspartei Nea Dimokratia zusammen. Die Angehörigen kritisieren, wichtige Zeugen und nicht genehme Experten seien nicht angehört worden.
Griechische Minister geniessen eine spezielle Immunität
Maria Karystianou ist ein bekanntes Gesicht in den griechischen Medien. Die Kinderärztin aus Thessaloniki steht der Vereinigung der Angehörigen der Opfer in Tempi vor. Ihre 20-jährige Tochter Marthi kam bei dem Zugunglück ums Leben. Wie viele andere ist sie überzeugt davon, dass staatliche Nachlässigkeit und Korruption für das Unglück mitverantwortlich sind und nicht allein «menschliches Versagen», wie Ministerpräsident Mitsotakis zunächst behauptete.
Zwar war direkt nach dem Unglück der Bahnhofsvorsteher von Larisa verhaftet worden, der die Weichen falsch gestellt haben soll. Gegen 32 weitere Personen wird ebenfalls ermittelt. Doch die Angehörigen wollen, dass die Verantwortung der Politik geklärt wird. Schliesslich hatten Eisenbahner seit Jahren vor den Zuständen im griechischen Bahnverkehr gewarnt. Moderne Sicherheitssysteme waren auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke, auf der sich das Unglück ereignete, nicht installiert, obwohl reichlich EU-Gelder dafür geflossen waren.
Karystianou sagte gegenüber Medien, sie habe ihrer Tochter noch geraten, den Zug zu benutzen, der sei sicherer als die Fahrt per Bus oder Auto. Seitdem sie erfahren habe, wie das griechische Bahnsystem funktioniere, würde sie nicht einmal mehr Gemüse damit transportieren.
Karystianou hat eine Petition lanciert, die mit einer Besonderheit im griechischen Recht Schluss machen soll, welche auch quer zu EU-Recht steht: dass nur das griechische Parlament Fehlverhalten von Ministern untersuchen kann. Die Petition fordert vom Parlament eine Verfassungsänderung, damit die Immunität von Ministern im Falle einer strafrechtlichen Haftung aufgehoben werden kann. 1,3 Millionen Menschen haben bisher unterzeichnet.
Lieber in die Kirche gehen, statt Aufklärung zu fordern
Doch dass sich etwa der damalige Transportminister Konstantinos Achilleas Karamanlis jemals vor der Justiz verantworten muss, ist unwahrscheinlich. Karamanlis, der einer bekannten Politikerdynastie entstammt, trat zwar direkt nach dem Unglück als Transportminister zurück, wurde jedoch kurz darauf wieder ins Parlament gewählt. Die Europäische Staatsanwaltschaft EPPO forderte Griechenland letztes Jahr auf, gegen Karamanlis wegen Veruntreuung von EU-Geldern bei Bahngeschäften zu ermitteln. Doch die Regierung in Athen lehnte die Aufnahme eines Verfahrens ab.
Das Interesse, das Zugunglück restlos aufzuklären, scheint gering. So berichtete Karystianou gegenüber Medien, die oberste Staatsanwältin Georgia Adeilini habe ihr bei ihrem Besuch am Obersten Gerichtshof in Athen geraten, sich nicht weiter mit dem Unglück zu befassen. «Solche Dinge passieren», habe Adeilini gesagt und den Angehörige geraten, lieber in die Kirche zu gehen und Hilfe zu suchen.
Und als junge Menschen am Jahrestag des Unglücks die Namen der 57 Toten in blutroter Farbe auf den Athener Syntagma-Platz schrieben, wurde die Schrift über Nacht eiligst weggeputzt.