Er wurde in den letzten Kriegstagen erschossen, unter ungeklärten Umständen: «Was hat mein Grossvater im NS-Staat getan?», fragte sich Susanne Beyer – und schrieb über das, worüber in der Familie nie gesprochen wurde.
Kann man um die Nazi-Verstrickungen eines Vorfahren wissen und ihn dennoch auf beunruhigende Weise sympathisch finden? Und, wenn ja, darf man solche Emotionen zulassen? Auf diese Fragen, die die Gefühlsdilemmata der Nachfahren von NS-Tätern umreissen, läuft in Susanne Beyers Buch «Kornblumenblau» alles hinaus. An seinem Beginn stehen die jahrelangen Recherchen der Autorin zum geheimnisvollen Tod ihres Grossvaters bei Kriegsende im April 1945.
Doch zunächst einen Schritt zurück. Denn in dem Buch der 56-jährigen «Spiegel»-Journalistin manifestiert sich, wie auch in der kürzlich erschienenen Spurensuche «Mein Grossvater, der Täter» von Lorenz Hemicker, ein bemerkenswertes Phänomen: Achtzig Jahre nach Kriegsende scheint vielen Deutschen die NS-Zeit näher denn je. Es ist die eigene, lange von Tabus und Schweigen umstellte Familiengeschichte, die heute für viele Nachgeborene in den Fokus rückt.
Ausgelöst wird dieses neue Interesse oft durch den Tod von familiären Zeitzeugen, auf deren Emotionen lange Rücksicht genommen werden musste. Erleichtert wird es durch neue digitale Recherchemöglichkeiten. Das zeigt sich nicht zuletzt in der steigenden Zahl an Anfragen nach Akten aus der NS-Zeit beim deutschen Bundesarchiv. Allein im Jahr 2023 waren es über 75 000. Von daher passt es gut, dass Susanne Beyer ihr reflektiertes, spannend zu lesendes Buch als exemplarische Recherche angelegt hat und ihrer Leserschaft bisweilen sogar Hilfestellungen für eigene Nachforschungen gibt.
Forschung zu Blütenfarben
Susanne Beyers Grossvater war nicht SS-Angehöriger. Er war nicht einmal Parteimitglied. Seine Haltung zum NS-Regime ist unbekannt, da sich weder Briefe noch Tagebücher von ihm erhalten haben. Ein Kollege lobte ihn nach dem Krieg als «eifrigen Verfechter der demokratischen Staatsidee». Dieses nachgerufene Urteil könnte aber, so befürchtet die Enkelin, womöglich den Zeitumständen geschuldet sein, die sich damals schlagartig änderten.
Familienmitglieder beschrieben den Grossvater als gewissenhaft und unfähig zu lügen und vermuteten gerade darin den Grund dafür, dass der promovierte Chemiker unmittelbar vor Kriegsende sterben musste: Er habe wohl zu viel gewusst.
Susanne Beyer nähert sich dieser wie auch anderen Familienlegenden mit wohltuender Skepsis. Sie hält sich an Fakten. Und die werden, je näher sie ihrem Grossvater kommt, umso abgründiger. Als Doktorand forschte der Grossvater zu Blütenfarben. Vor allem Kornblumenblau, daher der Titel des Buchs. In der NS-Zeit aber war er ein gefragter Fachmann, der beim Reichsamt für Wirtschaftsausbau in Kooperation mit der I. G. Farben mit der synthetischen Herstellung von Kautschuk, also Gummi, zu tun hatte. Ein Rohstoff, der in Kriegszeiten schwer zu importieren war, aber von der Wehrmacht dringend gebraucht wurde.
Zeuge des Unrechts
Beyers Grossvater war, wie es in einer Beurteilung hiess, ein «unentbehrlicher und unersetzbarer Spezialist auf dem Buna-Gebiet» – die Abkürzung stand für «Butadien mit Natrium», ein Synonym für synthetischen Kautschuk. Deshalb war er bis zum Ende des Kriegs «u. k. gestellt», also vom Wehrdienst befreit. Und der Grund dafür war, wie die Autorin feststellen muss, dass er in einem Bereich tätig war, der ihn zwangsläufig in die Nähe des Holocausts brachte.
Denn das Buna-Werk stand in unmittelbarer Nähe zum Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Erbaut worden war es von Tausenden von Zwangsarbeitern. Einer von ihnen war der italienische Chemiker und Schriftsteller Primo Levi. «Mir fehlen die Belege, ich kann wirklich nur vermuten, wie es gewesen ist», schreibt Susanne Beyer. «Da in diesen Akten aus Auschwitz kein Geheimnis gemacht wurde, bedeutet das sehr wahrscheinlich, dass mein Grossvater von den schweren Verbrechen dort gewusst haben wird. Und wer Zeuge eines Unrechts ist, wird auch Teil dieses Unrechts, selbst wenn er das Unrecht nicht selbst bewirkt hat.»
Gegen Kriegsende brachte Susanne Beyers Grossvater seine Frau und seine kleine Tochter, die Mutter der Autorin, in den Westen. Er selbst hielt als einer der letzten Reichsamtsmitarbeiter die Stellung im eigentlich längst geräumten Ausweichquartier seiner Abteilung im brandenburgischen Kloster Lehnin, das damals wie heute von evangelischen Schwestern betrieben wird. Dort marschierte am 23. April 1945 die Rote Armee ein. Noch am selben Abend, als die Rotarmisten feierten und vergewaltigten, wurde Beyers Grossvater im Kloster erschossen, als einziger Deutscher.
Moralisch falsch
Warum? Die Quellen, darunter Aufzeichnungen der Diakonissen und der Bericht eines Kollegen, deuten in unterschiedliche Richtungen. Von einem Missverständnis ist die Rede, vielleicht aufgrund eines Übersetzungsfehlers. Oder musste Beyers Grossvater, als ranghöchster Reichsamtsmitarbeiter vor Ort, buchstäblich den Kopf für die Verbrechen der Nazis hinhalten? Immerhin handelte es sich bei den Rotarmisten, die ins Werk einmarschierten, um dieselbe Einheit, die zuvor Auschwitz befreit hatte.
Eine Antwort auf die Frage, warum ihr Grossvater in jener Nacht sterben musste, findet die Autorin nicht. Ebenso wenig wie auf andere: Hat ihre Grossmutter je mit ihrem Mann über seine Arbeit gesprochen? Warum brachte er seine Familie im Westen in Sicherheit, kehrte selbst aber ins Kloster und damit in Frontnähe zurück? Wie viel Verantwortung trug er wirklich? War er womöglich einfach in das Ganze hineingerutscht, um dem Kriegsdienst zu entgehen, oder spiegelt sich in dieser Vermutung bereits das Bedürfnis der Enkelin, ihren Grossvater von Schuld freizusprechen?
Was die Autorin zunehmend irritiert, ist der Widerspruch zwischen ihrem Wissen um die Tätigkeit ihres Vorfahren und ihren persönlichen Gefühlen zu ihm. «Ich merke, dass ich trotz der ganzen Recherche nicht davon weggekommen bin, was ich schon zugegeben habe, als ich das Fotoalbum meiner Grossmutter analysiert habe: dass ich meinen Grossvater mögen will. Nützen denn all diese Recherchen nichts?» Sie betrachte ihren Vorfahren auf eine Weise, die ihr zwar emotional richtig vorkomme, aber moralisch falsch, gesteht die Autorin.
Solche Konflikte von Nachgeborenen sind häufig. Das erfährt Beyer, als sie etwa Marina Chernivskys Buch «Gefühlserbschaften des Nationalsozialismus» liest. Oder Gespräche, zum Beispiel mit dem jüdischen Psychotherapeuten Peter Pogány-Wnendt, der einen Arbeitskreis für intergenerationelle Folgen des Holocausts leitet. In diesen Lektüren vertieft und reflektiert Susanne Beyer ihre eigene Recherche. Nicht zuletzt dies macht ihr Buch, trotz dem mitunter sehr subjektiv-emotionalen Zugang, sehr lesenswert.
Susanne Beyer: Kornblumenblau. Der geheimnisvolle Tod meines Grossvaters 1945 und die Frage, was er mit den Nazis zu tun hatte. Eine Spurensuche. Deutsche Verlagsanstalt, München 2025. 240 S., Fr. 34.90.