Felix Sandalow hat vor drei Jahren «Straight Forward» gegründet, eine Organisation für russische Autoren, die in ihrer Heimat nicht mehr publizieren können. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen und Putins Zensur.
Etwas dumm schauen sie dieser Tage schon aus der Wäsche, die russischen Putin-Trolle in Berlin. Monatelang hatten sie, wenn sie im Autokorso durch die Stadt fuhren und die weiss-blau-rote Flagge knattern liessen, die Amerikaner verflucht. Nicht die faschistoiden Ukrainer, nicht den jüdischen Nazi Selenski, sondern den Westen und ganz besonders die Amerikaner, denn die sind doch der Hauptfeind: So erzählte es ihnen Putin, ihr Meister, so raunte dessen Hofphilosoph Alexander Dugin, und so bestätigen es ihnen allabendlich die geifernden Demagogen am Fernsehen.
Und nun soll plötzlich alles anders sein? Nun trifft sich Putin mit Trump? Statt schönem Hass und männlicher Feindschaft auf einmal nur noch zwei hundskommune «partners in crime», vereint im Verrat an der Ukraine?
Es gibt die andere Berliner Russengemeinde: ruhiger, bescheidener und immens bedrückt angesichts des Zustands ihrer Heimat. Felix Sandalow ist einer von ihnen. Er ist CEO der Organisation «Straight Forward», die es sich zum Ziel gesetzt hat, russischen Autoren, die im repressiven Russland verstummt sind, eine Stimme zu geben.
Kidnapping wird als Evakuation deklariert
Die Zensur ist in Russland omnipräsent. Wer den Kreml oder den Krieg gegen die Ukraine kritisiert, kann im Gefängnis landen. «Straight Forward» bringt russische Exilautoren, die über solche Themen schreiben, mit Verlagen in ganz Europa in Kontakt. Die meisten gelten in Russland als «ausländische Agenten». Das Ziel von «Straight Forward», so Sandalow, ist einfach, wenn auch ehrgeizig. «Wir wollen die harten Realitäten des modernen Russland dokumentieren, vom Krieg in der Ukraine bis zur politischen Verfolgung, und diese Werke dem russischen Volk zugänglich machen.»
Das sind keine leeren Worte. Zusammen mit Swjatoslaw Chomenko, der in Kiew lebt, arbeitet Nina Nasarowa an einem Buch mit dem Arbeitstitel «Gestohlene Jugend. Wie Russland ukrainische Kinder kidnappt – und wie die Ukrainer sie wieder zurückbekommen». In diesem Frühling soll es erscheinen, mit der Unterstützung von «Straight Forward». Was Nasarowa wichtig ist: Es gehe nicht um Vorwürfe, sondern um Fakten. Die Russen würden das Kidnapping nicht leugnen, nur anders nennen: «Evakuation» etwa oder «Rettung». Maria Alexejewna Lwowa-Belowa, die russische Präsidialkommissarin für Kinderrechte, sieht in den staatlich organisierten Entführungen Akte zum Wohl der Kinder. Sie wird vom Internationalen Strafgerichtshof per Haftbefehl gesucht, genau wie Putin selber, dem sie Bericht erstattet.
Das Kidnapping begann noch vor dem Einmarsch. Schon am 18. Februar 2022 wurden Hunderte von Waisen aus Anstalten in Donezk und Luhansk nach Russland verfrachtet, seither sind Tausende dazugekommen. Fast alle erhielten einen russischen Pass, ihre Namen und Geburtsdaten wurden laut Nina Nasarowa aber nicht verändert. Eine Zeitlang waren im russischen Internet detaillierte Angaben zum Kinderdiebstahl zu finden, heute gibt sich Moskau bedeckt. Kiew beziffert die Anzahl der gekidnappten Kinder auf knapp 20 000, von ihnen sind inzwischen 388 wieder in die Heimat zurückgekehrt. Nasarowa und Chomenko führten mit vielen von ihnen Interviews, auch mit einigen, die noch immer im Land ihrer Kidnapper leben. Keines der Kinder äusserte sich positiv über den Aufenthalt in Russland – ganz anders als die ukrainischen Waisen, die im russischen Staatsfernsehen in schöner Kadenz ihr Glück besingen.
Dass die gestohlenen Kinder je wieder in grösserer Zahl in ihre Heimat zurückkehren, glaubt Nina Nasarowa nicht. Und über die Motive des Kremls kann sie nur spekulieren. Ein imperialistisches Urbedürfnis? Weiterung des Genpools? Ein Mittel gegen den unaufhaltsamen Bevölkerungsschwund? Sie selbst plagt ein «Gefühl des Versagens», das Wissen darum, dass ein Verbrechen monströsen Ausmasses vermutlich für immer ungesühnt bleiben wird.
«Es gibt Dinge, die vergibt man nicht»
Nina Nasarowa lebt heute in Riga und arbeitet für die BBC. Sie kommt aus Tula, 37 Jahre hat sie in Russland gelebt. Sie liebt die Freiheit, hat an den Massendemonstrationen gegen Putin im Winter 2011/12 teilgenommen und lange auf bessere Zeiten gehofft. Putins Überfall auf die Ukraine hat ihr die letzten Illusionen genommen. Sie hat ihr Land geliebt, aber das ist vorbei: «Es ist wie mit einem gewalttätigen Partner: Es gibt Dinge, die vergibt man nicht.»
«Straight Forward» ist formell im November 2022 gegründet worden, existiert aber als Idee schon seit drei Jahren. Geld wird keines verdient, alle Einnahmen gehen an die Autoren, auch die Erlöse aus dem Verkauf der Rechte an Verlage in ganz Europa. «Straight Forward» nimmt nicht einmal Kommissionen. Sandalow und seine Mitstreiter arbeiten ehrenamtlich, oft bis zur Erschöpfung. Bis heute steckt Felix Sandalow in sein Startup vor allem das Geld, das er zusammen mit seinem damaligen Partner Alexei Dokutschajew als Besitzer des inzwischen verkauften Individuum-Verlags in Moskau verdient hatte. Daneben fliessen Gelder aus der EU, den USA, Deutschland (der Friedrich-Naumann-Stiftung) und ab und zu von individuellen Spendern. Von jedem Buch, das im Westen gedruckt wird, gibt es in Russland eine russische Online-Version zum Download, und zwar gratis und in einer Form, die auch auf Trägern wie Kindle zu speichern ist.
Polina Aronson macht bei «Straight Forward» die Öffentlichkeitsarbeit. Siebzehn Jahre ist die gebürtige St. Petersburgerin schon in Berlin, an der Freien Universität forscht sie zu «affektiven Gesellschaften». Aronson glaubt nicht, dass Literatur ein Instrument des Wandels sein kann, also erwartet sie auch nicht, dass das Projekt von Felix Sandalow Russland verändert. Dass die Exilrussen viel bewirken können, glaubt sie ebenfalls nicht. «Wir dürfen uns nicht überschätzen. Wir halten das Handtuch, wie beim Boxen.»
Putins Armada von Giftmördern
Das Programm besteht derzeit noch ganz aus Non-Fiction – «die Romane müssen warten», sagt Polina Aronson. Doch sie werden kommen. Den Westen will Aronson nicht belehren, sondern informieren. Zwar gibt es seit 2022 eine Flut von Büchern über Putin, den Kreml und den Krieg, aber fundiertes Wissen über spezifische Themen fehlt. Die sechzehn Autoren im «Straight Forward»-Programm 2024/25 schreiben über die Degeneration der orthodoxen Kirche zum Propagandainstrument Putins, über russische Cyber-Punks, die Lage im Donbass oder die malträtierte queere Szene, deren Mitglieder im reaktionären Habitat Putins nach Luft ringen.
Bereits erschienen dank der Unterstützung von «Straight Forward» ist das Buch «Death is our Business – the Complete History of the Wagner Group», ein Werk über die ominöse Wagner-Gruppe von Ilja Barabanow und Denis Korotkow. Acht Jahre lang sammelten sie Informationen, vor drei Jahren haben sie mit dem Schreiben begonnen, immer im Bewusstsein, ein enormes Risiko auf sich zu nehmen. Weder der Kreml noch die Wagner-Gruppe mögen kritische Aufmerksamkeit, erhalten sie sie doch, sind die Rechercheure gefährdet. Barabanow lebt in Riga, Korotkow in Vilnius, der Hauptstadt Litauens. Ob die Autoren Putins Armada von Giftmördern auf Dauer entgehen, ist offen – Fragen dieser Art parieren sie mit Galgenhumor. Trösten können sie sich ein Stück weit mit den Verkaufszahlen: Binnen weniger Wochen hat das Wagner-Buch dank digitaler Verbreitung kostenloser PDF-Dateien im Internet mehr als 30 000 Leser erreicht.
Ein weiterer formidabler Stipendiat von «Straight Forward» ist Jegor Mostowschikow, Reporter, Redakteur, Erzähltherapeut und Produzent. Er ist Mitgründer des unabhängigen Medienunternehmens «Batenka, da vy transformer» («Väterchen, ja, Sie sind ein Transformer»), einer Webplattform mit phantasievollen Grafiken und regierungskritischen Texten. Die Plattform verstand er als Wiedererstehung des «Samisdat» («Selbstverlag»), in dem zur Sowjetzeit nicht Systemkonformes verbreitet wurde. Die aufwendig gestaltete Website hatte zu ihren besten Zeiten 40 000 Leser pro Monat, Mostowschikow gab allerdings 2021 auf – Putins Zensoren liessen dem Projekt keine Chance.
Trophäen der Aggression
Mostowschikow, in Moskau geboren, lebt in Berlin und recherchiert zum Thema Kunstkriminalität. Sein Buch im «Straight Forward»-Programm trägt den Arbeitstitel «Geplünderte Identität: der Markt für Kunstkriminalität in der Ukraine und in Zeiten des Krieges», und was Mostowschikow dazu zu erzählen hat, ist bemerkenswert. Bereits in Russland hatte er bei «Snob», «Esquire» und «GQ» über Raubkunst, Fälschungen und massenhafte Plünderungen geschrieben und sich so im Lauf der Zeit ein Netzwerk von Quellen in der russischen und internationalen Welt der Kunstkriminalität aufgebaut. Er kennt Detektive, Polizeibeamte, Kunsthändler und Museumsmitarbeiter, die ihm schildern, wie die Russen heute in der Ukraine eine Tradition fortsetzen, die bis in die Antike zurückreicht.
Über 480 000 Objekte, von antikem skythischem Gold bis hin zu zeitgenössischer Kunst, haben die Russen in diesem Krieg gestohlen oder zerstört – ein Schlag gegen die kulturelle Identität der Ukraine. Allein in Cherson wurden unter staatlicher russischer Anleitung 15 000 Objekte entwendet. Und trotz allen internationalen Bemühungen zur Eindämmung des illegalen Kunsthandels bleibt die Nachfrage hoch, auch in Kriegszeiten. Mostowschikow verliess Russland am 1. März 2022, ein paar Tage nach Kriegsbeginn. Zusammen mit seiner damaligen Partnerin flog er nach Tbilissi, mit einem Ticket, das sie in weiser Voraussicht gekauft hatte.
Mostowschikow hat sich schon immer für die individuelle Freiheit und die Möglichkeit anderer Lebenswelten interessiert. Er spricht fliessend Englisch, ohne die Sprache je bewusst gelernt zu haben – «ich schaute mir endlos Cartoons an».
Mostowschikow sagt: «Die Russen klauen Kunst mit einer atemraubenden Arglosigkeit, als sei es das Natürlichste der Welt. Niemand macht ein Geheimnis daraus.» Stolz stellt man die entwendeten Positionen in den renommiertesten Museen des Landes aus: in der Tretjakow-Galerie, der Hermitage oder im Puschkin-Museum. Die Chancen, dass die Kunstwerke je zurückgegeben werden, sind laut Mostowschikow «gleich null». In einer Zeit, in der ein zerknirschter Westen Kunstwerke in grosser Zahl an die Herkunftsländer zurückgibt, stellt Russland schamlos die Trophäen seiner Aggression zur Schau. Neu ist das nicht. Schon zu sowjetischer Zeit holten sich die Russen, das Herrenvolk in der Union, Kunst nach Belieben aus sämtlichen Sowjetrepubliken. Zurückgegeben wurde sie nie.
Russin ohne Heimweh
An der Bernauer Strasse beim Mauerpark sitzt Natascha Smirnowa in ihrer kleinen Buchhandlung. Sie verkauft die Bücher, die dank Felix Sandalow entstanden sind. Smirnowa, die mit ihrem Mann seit zehn Jahren in Berlin lebt und unterdessen zwei «sehr deutsche» Kinder hat, will Autoren sichtbar machen, die gegen Putin und gegen den Krieg in der Ukraine Stellung beziehen. Das Geschäft ist beliebt bei oppositionellen Russen, die an diesen Samstagmittag in grosser Zahl erscheinen und stöbern, Kaffee trinken und plaudern. Sie sind alle jung.
Eine Russin ohne Heimweh: Natascha Smirnowa fühlt sich zu Hause in Berlin – und vor allem sicherer. In Sankt Petersburg hat sie als Literaturagentin gearbeitet. Die Annexion der Krim und Putins Aggression gegen die Ukraine waren das Signal für den Wegzug. «Vor 2014 war so etwas wie oppositioneller Aktivismus noch möglich.» Im Herbst 2023 eröffnete sie ihren Buchladen, zum Namen Babel Books hat sie sich nach einem Israelbesuch vom gleichnamigen Geschäft in Tel Aviv inspirieren lassen. Trotz alledem ist sie mit Russland noch immer verbunden: Rund 80 Prozent der Bücher, die sie verkauft, kommen aus ihrer Heimat, der Rest von russischsprachigen Verlagen, aus Israel und aus Lettland.
Von den lauten und mitunter gefährlichen Anhängern Putins ist Smirnowa trotz ihrer Haltung bisher verschont geblieben. Manchmal, bei brisanten Lesungen, erscheint im Hintergrund diskret die Polizei, darüber ist sie froh. Auch sie hat ihr Land geliebt, und am Herzen liegt ihr sein Wohlergehen sowieso. Nichts wünscht sie sich sehnlicher als ein Ende des Krieges. Und falls das kommt und wieder Frieden herrscht, würde sie zurückgehen? «Keinesfalls. Ich gehe nie zurück.»
Die Gegenöffentlichkeit im Exil
Rund 30 000 bis 50 000 Russen lebten in den späten dreissiger Jahren in Berlin: vor Stalin geflohene Intellektuelle, Künstler, Hasardeure, Geschäftsleute. Die Zeitungen «Nowi Mir» und «Otetschestwennje Sapiski» boten den Schriftstellern und Autoren unter ihnen damals eine Plattform, «Russkaja Schisn» veröffentlichte Nachrichten über das Leben im Exil. In der Sowjetunion selber hatten diese Zeitungen kaum Einfluss. Heute ist das anders: Über das Internet gelangen Bücher, die im Ausland verlegt werden, zurück nach Russland und entfalten dort ihre Wirkung.
«Gegenöffentlichkeit» nennt es Felix Sandalow. Ob «Straight Forward» im Geschäft bleiben wird, ist fraglich. Deutschland ist wirtschaftlich angeschlagen, an öffentliche Gelder zu kommen, ist schwer. Ukrainische Projekte sind beliebt und haben einen Startvorteil, Russen werden argwöhnisch betrachtet und müssen beweisen, dass sie nichts mit Putin zu tun haben. In einem Europa, das in diesen Tagen zur Einsicht kommt, dass nicht einmal mehr auf die transatlantische Partnerschaft Verlass ist, sind Unternehmen wie «Straight Forward» von unschätzbarem Wert. Sie zeigen einem zunehmend verunsicherten Publikum, dass Putin noch Gegner hat, die an ein gutes Russland glauben.