Es ist nicht das erste Annus horribilis der Demokraten.
Viele politische Beobachter empfanden es als den sprichwörtlichen Blitz aus heiterem Himmel: Am Abend des 31. März 1968 hatte Präsident Lyndon B. Johnson eine Fernsehansprache, in der es um den Krieg in Vietnam ging und in der er Friedensgespräche ankündigte, fast beiläufig mit den Worten beendet: «Ich werde mich nicht um die Nominierung meiner Partei für eine weitere Amtszeit als Ihr Präsident bemühen und werde diese auch nicht annehmen.»
Der demokratische Präsident, dessen Umfragewerte erschreckend niedrig waren, hatte die Konsequenzen gezogen, und die seiner Partei nahestehende «Washington Post» war voll des Lobes. Er habe «ein persönliches Opfer für die nationale Einheit erbracht».
Das Chaos, in das die Entscheidung Johnsons die Demokratische Partei in jenem von politischer Gewalt erschütterten Epochenjahr stürzte, wird derzeit in der Debatte um die Amtsfähigkeit von Präsident Joe Biden und die Frage, ob es möglich und sinnvoll sei, den Sieger in allen Vorwahlen noch gegen einen anderen Kandidaten auszutauschen, gern als historische Analogie angeführt. Allerdings stossen die Parallelen an Grenzen.
LBJ verzichtet, Bobby Kennedy wird ermordet
Lyndon B. Johnson – «LBJ» genannt – zeigte keinerlei für die Öffentlichkeit erkennbaren kognitiven Einschränkungen; der Texaner war schlicht amtsmüde. Vor allem die Auseinandersetzung im Zusammenhang des immer weiter eskalierenden Vietnamkriegs hatte Johnson zermürbt. Wenige Wochen zuvor hatte die kommunistische Tet-Offensive die optimistischen Prognosen des amerikanischen Militärs ad absurdum geführt.
Ein noch bedeutenderer Unterschied zu 2024: Der Verzicht des Präsidenten geschah zu einem frühen Zeitpunkt in einem Wahljahr. Eine einzige der damals wesentlich geringeren Zahl von Vorwahlen hatte bis zu jenem Zeitpunkt stattgefunden. In New Hampshire hatte Johnson mit einem Stimmenanteil von 49 Prozent unerwartet schlecht gegen den Anti-Kriegs-Kandidaten Eugene McCarthy, einen Kongressabgeordneten aus Minnesota, abgeschnitten, der auf 42 Prozent gekommen war. Wenige Tage nach dieser ersten Vorwahl erklärte Johnsons Nemesis Robert F. Kennedy – Bruder des 1963 ermordeten Präsidenten und Vater des heutigen unabhängigen Präsidentschaftskandidaten gleichen Namens – seine Kandidatur. Das brachte für LBJ das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen.
Panische Kandidatensuche
In der Demokratischen Partei kam es nun zu einer Dichotomie der zunächst fast panikhaften Kandidatenfindung. Auf der einen Seite nahm der inzwischen in die amerikanischen Politfolklore eingegangene «Wahlkampf der einhundert Tage» seinen Lauf – definiert durch die Zeitspanne, die Robert F. Kennedy seit Bekanntgabe seiner Kandidatur verblieben. Die Szenen jenes Frühsommers lösen heute bei vielen Amerikanern Nostalgie aus: ein junger Kandidat, der weite Bevölkerungsschichten begeisterte – vor allem junge Wähler, Frauen und Minderheiten – und der in den Stationen seines Wahlkampfes fast wie ein Messias gefeiert wurde. Der 42-Jährige schien für ein anderes, ein mitfühlendes, ein sozial gerechtes Amerika zu stehen. Die Vision ging in der dieses Jahr 1968 so kennzeichnenden Gewalt unter: Kennedy fiel in der Nacht vom 4. auf den 5. Juni den Kugeln eines Attentäters zum Opfer. Genau zwei Monate zuvor war Martin Luther King ermordet worden.
Auf der anderen Seite buhlte der blasse Vizepräsident Hubert Humphrey um die Gunst des Establishments. Ob Kennedy auf dem Parteitag in Chicago – hätte er ihn erleben dürfen – eine Chance gegen Humphrey gehabt hätte, ist ungewiss. Der Vizepräsident, der keinen Vorwahlkampf führte, hatte bereits 561 Delegiertenstimmen sicher im Vergleich zu 393 für Kennedy und 258 für McCarthy. Auch wenn heute anders als 1968 in allen Gliedstaaten und US-Territorien Vorwahlen stattfinden, bleibt bei den Demokraten der Einfluss der Partei-Granden gross. Heute heissen sie «Superdelegierte». 2016 hatte Hillary Clinton diese mehrheitlich auf ihrer Seite, was ihr im parteiinternen Ringen mit Senator Bernie Sanders von Anfang an einen Vorsprung einbrachte.
Tränengas und Knüppel
1968 hielten die Demokraten einen Parteitag ab, der selbst überzeugte Stammwähler schockierte. In den Strassen Chicagos hatten sich Tausende von Demonstranten versammelt, die vor allem gegen den Vietnamkrieg protestieren wollten. Die Polizei, für die letztlich der in der Demokratischen Partei höchst einflussreiche Bürgermeister von Chicago, Richard Daley, verantwortlich war, ging mit äusserster Brutalität gegen die «Hippies» und andere Vertreter der Gegenkultur vor. Junge Leute wurden vor laufender Kamera mit Knüppeln zusammengeschlagen, wiederholt wurde der Parteitag unterbrochen; im Gebäude soll das auf den Strassen eingesetzte Tränengas zu riechen gewesen sein. Wenig begeistert nominierten die geschockten Delegierten Hubert Humphrey zu ihrem Präsidentschaftskandidaten. Im November lag er in der Gesamtzahl der Stimmen nur knapp hinter dem Republikaner Richard Nixon, die Niederlage der Demokraten fiel mit 191 Elektorenstimmen gegenüber 301 für Nixon deutlich aus.
Möglicherweise liegt für viele Demokraten hier die wichtigste Mahnung, die 1968 für 2024 bereithält: Bei einer plötzlich notwendigen Kandidatensuche sich auf eine bekannte, aber auch wenig inspirierende bisherige Nummer zwei zu verlassen, kann in die Niederlage führen. Es fällt auf, dass in den letzten Tagen selbst die sonst Kamala Harris sehr gewogene «Washington Post» gehäuft Leserbriefe ebenso wie Leitartikel druckt, in denen der Austausch nicht des Präsidentschaftskandidaten, sondern der zweiten Person auf dem «Ticket» gefordert wird. Zu schwach wirkt selbst auf eingefleischte Demokraten die Leistung der bisherigen Vizepräsidentin, deren Stehvermögen im Wahlkampf von 2020, als sie selbst für die Präsidentschaft kandidierte, wenig Mut zu machen scheint: Zunächst eine Rivalin von Joe Biden, warf sie das Handtuch, noch bevor die erste Vorwahl stattgefunden hatte.
Psychisch kranker Vizepräsidentschaftskandidat
Der Austausch des oder der «running mate» ist ein vergleichsweise einfacher Schritt. Diese Wahl obliegt allein dem Kandidaten selbst. Früher hat verschiedentlich der Wahlparteitag die Entscheidung getroffen wie 1944, als die Delegierten mit Harry Truman den bald mit dem Tod von Franklin D. Roosevelt ins Weisse Haus einziehenden Vizepräsidentschaftskandidaten bestimmten. Ein bekanntes Beispiel für einen solchen Wechsel sogar nach einer «convention» ist die Entscheidung des Kandidaten der Demokraten im Jahr 1972, George McGovern.
Es wurde bekannt, dass McGoverns Kandidat für die Vizepräsidentschaft, Senator Thomas Eagleton, sich mehrfach in stationärer psychiatrischer Behandlung befunden und dabei auch Elektroschocktherapie erhalten hatte – in den Augen vieler Amerikaner nicht gerade eine Empfehlung für einen Mann, der im Falle eines Wahlsieges den sprichwörtlichen «einen Herzschlag» vom Präsidenten entfernt war. McGovern erklärte, er stehe «1000-prozentig» hinter Eagleton. Doch dann wurde Eagleton fallengelassen und durch Sargent Shriver, ein angeheiratetes Mitglied des Kennedy-Clans ersetzt – was am Wahlausgang, einer demütigenden Niederlage, bei der McGovern nur Massachusetts und die Hauptstadt Washington gewinnen konnte, wenig änderte.
Ein Kompromisskandidat verliert
In der derzeitigen Debatte wird davon gesprochen, dass der Parteitag der Demokraten im August möglicherweise wieder zur Versammlung wird, bei der nicht von vornherein feststeht, wer Präsidentschaftskandidat ist, und es zu einer oder mehreren Abstimmungen kommt. Solche Parteitage sind im Zeitalter der wohlorchestrierten Politshows Reminiszenz.
Freilich darf es mit der Wahlfreudigkeit nicht übertrieben werden, wie ein Jubiläum aufzeigt. Vor genau einhundert Jahren bot die Demokratische Partei der Nation das Schauspiel eines Rekord-Wahlparteitages: Mehr als zwei Wochen rang man 1924 um eine Entscheidung; eine Zeit, in der manchen Delegierten das Geld für die Hotelkosten in New York City ausging. Erst nach 103 Wahlgängen hatte die Partei in John W. Davis einen Kompromisskandidaten, dessen Vita lediglich zwei Jahre als Kongressabgeordneter und eine vergleichbar lange Amtsdauer als amerikanischer Botschafter in Grossbritannien aufwies. Mit einem Stimmenanteil von knapp 29 Prozent unterlag Davis dem amtierenden Vizepräsidenten Calvin Coolidge.
Es zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte amerikanischer Präsidentschaftswahlen: Mit Notlösungen hat die Demokratische Partei einfach kein Glück.







