Der Richter habe sich an einer Verhandlung in Zürich mit einer Freigesprochenen solidarisiert.
Als Klimaaktivisten der Organisation «Extinction Rebellion» am 4. und 5. Oktober 2021 Teile der Innenstadt blockieren, dauert es Stunden, bis die Strassen für den Verkehr wieder frei sind. Die Folgen dieser Aktion beschäftigen die Justiz bis heute. Jüngst hat sich das Bundesgericht mit der Frage befasst, ob der Zürcher Bezirksrichter Roger Harris Klimaaktivisten gegenüber befangen sei.
Der Hintergrund: Harris sprach im September 2022 eine damals 46-jährige Frau vom Vorwurf der Nötigung frei, die knapp ein Jahr zuvor an den Protesten in der Zürcher Innenstadt teilgenommen hatte. Sie setzte sich mit anderen Aktivisten auf die Rudolf-Brun-Brücke und blieb trotz Abmahnung der Polizei auf der Strasse. Später wurde sie von der Polizei abgeführt und verbrachte zwei Tage in Haft. Der Richter begründet den Freispruch mit einem Mangel an Beweisen.
An der Verhandlung hält Harris fest, er sei künftig nicht mehr bereit, «friedliche Demonstranten» schuldig zu sprechen und staatlichen Strafaktionen zu unterstützen. So berichtet es das Online-Magazin «Republik», das die Verhandlung begleitet. Zudem soll Harris zur Beschuldigten gesagt haben: «Lassen Sie sich nicht einschüchtern. Machen Sie weiter so.» An zwei Kinder im Saal gerichtet, habe er zudem gesagt, sie könnten stolz auf ihre Mutter sein.
Bereits im Jahr 2020 Aktivisten freigesprochen
Damit bringt er die Staatsanwaltschaft gegen sich auf: Sie stellt beim Obergericht ein Ausstandsgesuch gegen Harris. Dieser habe, so argumentiert die Staatsanwaltschaft, den Eindruck erweckt, er werde in künftigen Fällen ohne Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalls gleich entscheiden. Offenbar habe er eine vorgefasste Meinung. Schon zuvor hatte Harris Klimademonstranten freigesprochen, die im Juni 2020 die Quaibrücke in der Stadt Zürich blockiert hatten.
Das Obergericht heisst das Ausstandsgesuch gut – und hält unter anderem fest, dass Äusserungen des Richters den Anschein erweckt hätten, es fehle ihm an der gebotenen Distanz. Harris darf in der Folge zwei Verfahren gegen zwei Frauen nicht leiten. Ihnen wird in Zusammenhang mit der Blockade der Uraniastrasse Anfang Oktober 2021 Nötigung vorgeworfen.
Damit ist die Sache aber nicht abgeschlossen. Denn das Bundesgericht hebt den Beschluss des Obergerichts auf mit der Begründung, das Gericht hätte die beiden vom Richterwechsel betroffenen Frauen anhören müssen. Dem kommt das Obergericht schliesslich nach.
Harris selbst gibt in einer Stellungnahme an, die «Republik» sei nicht neutral und habe das von ihm Gesagte verkürzt wiedergegeben. Damit kommt er nicht durch: Das Obergericht heisst das Ausstandsbegehren der Staatsanwaltschaft ein zweites Mal gut.
Beschuldigte findet, Harris sei nicht befangen
Wenig später muss sich das Bundesgericht wieder mit dem Fall befassen. Denn eine der beiden Frauen beantragt, das Ausstandsgesuch gegen Richter Harris sei abzuweisen. Sie hatte sich am 4. Oktober 2021 an einer Strassenblockade in der Stadt Zürich beteiligt – und ist der Meinung, Harris sei nicht befangen.
Nun hat das Bundesgericht die Beschwerde der Klimaaktivistin abgewiesen. Roger Harris habe sich an der Verhandlung im September 2022 mit der damals freigesprochenen Frau vor Publikum solidarisiert. Damit habe er – ob bewusst oder unbewusst – Erwartungen geweckt, die seine freie Meinungsbildung in einem ähnlich gelagerten zukünftigen Fall beeinträchtigen könnten. Dies hält das Bundesgericht in seinem Urteil vom 22. März fest, das am Freitag publik wurde.
Die Äusserungen genügten, um unter den hier gegebenen besonderen Umständen den Anschein zu erwecken, Harris sei nicht (mehr) in der Lage, das Strafverfahren gegen die Beschwerdeführerin als Einzelrichter «offen und nicht vorbestimmt anzugehen». Auch in Anbetracht dessen, dass es sich um einen Strafbefehl mit einem Tatvorwurf handle, der bis auf Ort, Datum und Uhrzeit beinahe identische sei.
Dass der erwähnte Freispruch laut Harris einzig deshalb erfolgt sei, weil der Sachverhalt aufgrund der vorgelegten, äusserst rudimentären Beweismittel gar nicht habe erstellt werden können, verstärke diesen Anschein eher, als dass es ihn entkräfte. Mit der Versetzung in den Ausstand verletze das Obergericht weder Bundes- noch Konventionsrecht.
Die Frau, die vor Bundesgericht gelangt ist, muss nun die Verfahrenskosten von 2000 Franken übernehmen.
Urteil 7B_601/2023 vom 22. März 2023