Der Staat hat selbst ohne die zurzeit diskutierten Volksinitiativen wegen der Demografie vor allem in der AHV und im Gesundheitswesen bedeutenden Korrekturbedarf. Das zeigen die neuen Finanzperspektiven des Bundes bis 2060.
Selbst Erfreuliches kann Probleme verursachen. Will man den Fortschritt der Menschheit in eine einzige Zahl pressen, wäre dies die Lebenserwartung. Vor 150 Jahren hatten Neugeborene in der Schweiz eine Lebenserwartung von 41 Jahren, heute ist es mehr als das Doppelte. Im gleichen Zeitraum ist die Geburtenrate stark gesunken: von durchschnittlich 4,4 Kindern pro Frau auf 1,4 Kinder. Auch dies ist grösstenteils das Ergebnis erfreulicher Entwicklungen – wie etwa des Rückgangs der Kindersterblichkeit, der starken Wohlstandszunahme, der längeren Ausbildungszeiten und der Emanzipation der Frauen.
Die Kehrseite der Medaille: Gemessen am Durchschnittsalter der Bevölkerung altert die Gesellschaft, und das zahlenmässige Verhältnis zwischen Erwerbstätigen und Rentnern verschlechtert sich. 70-Jährige sind heute im Mittel zwar fitter, als dies früher 60- oder 65-Jährige waren. Doch das ordentliche Pensionierungsalter ist trotz dem starken Anstieg der Lebenserwartung mit 65 immer noch gleich wie bei der Gründung der AHV 1948.
Das staatliche Altersvorsorgesystem lebt derzeit von grossen ungedeckten Checks, die irgendjemand irgendwann finanzieren muss. Das Volk hat jüngst an der Urne mit der pauschalen Rentenerhöhung weitere Zusatzkosten von etwa 5 Milliarden Franken pro Jahr vor allem zulasten der Jüngeren beschlossen. Auch auf das Gesundheitswesen kommen (weitere) Kostenerhöhungen zu.
AHV schenkt ein
Zur Einschätzung künftiger Belastungen für die Staatsfinanzen wagt die Eidgenössische Finanzverwaltung alle paar Jahre den Blick in die fernere Zukunft. Die jüngste Rechenübung reicht bis 2060. Laut den am Dienstag publizierten Ergebnissen würden die Schulden der öffentlichen Hand gemessen an der Zunahme der demografieabhängigen Kosten ohne Reformen von 27 auf 48 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandprodukt, BIP) wachsen. Dies entspräche gemessen am BIP des vergangenen Jahres einer Schuldenzunahme von etwa 170 Milliarden Franken. Das bezieht sich auf Bund, Kantone, Gemeinden und Sozialversicherungen zusammen.
Die genannten Zahlen spiegeln im Prinzip, wie stark die öffentlichen Schulden allein aufgrund der demografieabhängigen Zusatzkosten zunehmen würden, wenn es keine Regeländerungen gäbe und die Schuldenbremse des Bundes nicht gelten würde. Auf der Suche nach demografieabhängigen Zusatzkosten hat die Finanzverwaltung vier Posten begutachtet: Sozialversicherungen (vor allem AHV mit Ergänzungsleistungen), Gesundheit, Langzeitpflege und Bildung. Bei diesen Posten rechnen die Ökonomen der Finanzverwaltung damit, dass die Ausgaben prozentual stärker wachsen als die Gesamtwirtschaft (vgl. Grafik). Die Staatseinnahmen wachsen derweil gemäss den Annahmen etwa im Gleichschritt mit dem BIP – so dass nur überproportionales Ausgabenwachstum zu einer Finanzierungslücke führt.
Nicht berücksichtigt in der genannten Rechnung sind mögliche überproportionale Kostenanstiege ab 2028 bei nicht direkt demografieabhängigen Posten – wie etwa der Armee, der Forschung und den Klimasubventionen. Nicht berücksichtigt ist auch die vom Volk jüngst beschlossene Erhöhung der AHV-Renten, da die Gegenfinanzierung zurzeit noch offen sei. Nicht berücksichtigt ist auch ein mögliches Volks-Ja im Juni zum starken Ausbau der staatlichen Verbilligung der Krankenkassenprämien.
Hinter den Langfristschätzungen der Finanzverwaltung steckt überdies eine Reihe von Annahmen, unter anderem zum Wachstum der Arbeitsproduktivität (1,2 Prozent pro Jahr im langfristigen Mittel), der Realzinsen (1,4 Prozent), der Teuerung (1 Prozent) und der Nettoeinwanderung (schrittweiser Rückgang von 66 000 pro Jahr auf 35 000). Nicht berücksichtigt ist dabei, dass allfällige Steuererhöhungen zur Finanzierung der Lücken die Wirtschaftsentwicklung bremsen dürften.
Ausmass des Reformbedarfs
Die genannten Zahlen zum Finanzierungsbedarf sind keine Prognosen. Sie zeigen vielmehr eine mögliche Grössenordnung der nötigen Reformen zur Finanzierung der erwarteten Zusatzkosten bei den demografieabhängigen Ausgabenposten. Die so berechnete Fiskallücke beziffert die Bundesstudie für die Periode 2028 bis 2060 auf 0,7 Prozent des BIP beziehungsweise 1,2 Prozent.
Die erste Zahl illustriert den Korrekturbedarf, wenn man eine Erhöhung der absoluten Staatsschulden im Ausmass des Wirtschaftswachstums zulassen will (stabile Schuldenquote in Prozent des BIP). Gemessen am BIP des Basisjahrs 2021 entspräche dies einem Korrekturbedarf von gut 5 Milliarden Franken; um so viel müssten die jährlichen Staatsausgaben sinken oder die Staatseinnahmen steigen. Will man die Staatsschulden in Franken stabilisieren (so wie das die Schuldenbremse des Bundes vorschreibt), beträgt der Korrekturbedarf laut den Schätzungen gut 1,2 Prozent des BIP – rund 9 Milliarden Franken.
Das ist erheblich, aber im Prinzip machbar. Dies umso mehr, als laut den Szenarienrechnungen selbst unter Berücksichtigung der genannten Zusatzlasten die verfügbaren Einkommen bis 2060 im Mittel um 0,9 Prozent pro Jahr steigen dürften; diese Projektion ist vor allem das Ergebnis des unterstellten Wachstums der Arbeitsproduktivität von 1,2 Prozent pro Jahr. Allerdings sind im politischen Tagesgeschäft schon weit geringere Finanzkorrekturen als die genannten 5 bis 9 Milliarden Franken oft enorm schwierig.
Unter Einbezug der Volksinitiativen für höhere AHV-Renten (erfolgreich) und für eine höhere Verbilligung der Krankenkassenprämien (chancenreich) wäre überdies der Korrekturbedarf noch weit höher. Das Menu der Optionen zum Stopfen des Finanzlochs ist das gleiche wie immer: sparen an anderen Orten, höhere Steuern heute oder höhere Steuern übermorgen (lies: höhere Schulden).
Die Kosten des Klimaschutzes
Im zweiten Teil ihrer Langfristperspektiven wagt die Eidgenössische Finanzverwaltung erstmals eine Schätzung zu den Folgen der kommenden Klimaschutzmassnahmen für die öffentlichen Finanzen. Basis ist eine Studie des Berner Forschungsbüros Ecoplan. Entgegen dem, was der Bund im Vorfeld des Urnengangs vom Juni 2023 zum Klimagesetz suggeriert hatte, wird das Netto-Null-Ziel zum Ausstoss von Treibhausgasen nicht gratis zu erreichen sein.
Im Basisszenario der Ecoplan-Studie bleibt die Schweizer Klimapolitik beim jetzigen Massnahmenmix mit Lenkungsabgaben, Emissionsstandards und Subventionen, verstärkt aber die einzelnen Massnahmen proportional zwecks Erreichen des Klimaziels. Die CO2-Abgabe zum Beispiel würde von heute 120 Franken pro Tonne bis 2060 auf 500 Franken steigen. Gemäss Ecoplan läge das Schweizer BIP 2060 im Basisszenario etwa 2,4 Prozent tiefer als im Szenario ohne Zusatzmassnahmen, und die Wohlfahrt pro Kopf (definiert als Konsummöglichkeiten plus Freizeit) wäre knapp 1 Prozent tiefer. Das ist nicht dramatisch, aber die Differenz entspricht auf Basis der heutigen Grösse der Volkswirtschaft immerhin jährlichen Kosten von 8 bis über 15 Milliarden Franken.
Je rund 70 bis 75 Prozent der staatlichen Einnahmen und Ausgaben sind laut der Studie durch Klimaschutzmassnahmen direkt oder indirekt betroffen. Im Hauptszenario läge die Schuldenquote des Gesamtstaats im Jahr 2060 um etwa 8 Prozentpunkte des BIP höher als ohne zusätzliche Klimaschutzmassnahmen. In einem Alternativszenario mit verstärktem Einsatz von Subventionen anstelle einer Erhöhung der CO2-Abgabe wären es 11 Prozentpunkte; dies entspräche gemessen an der derzeitigen Wirtschaftsgrösse Zusatzschulden von 80 bis 90 Milliarden Franken.
Nicht berücksichtigt in dieser Rechnung sind aber die Klimakosten des Nichtstuns (Szenario «weiter wie bisher»). Laut gängiger Darstellung von Klimaexperten wären die langfristigen Kosten des Nichtstuns grösser als die Kosten von Gegenmassnahmen. Doch halbwegs belastbare Schätzungen dazu sind nach wie vor Mangelware. Die Finanzverwaltung hat zudem wegen methodischer Schwierigkeiten auch auf eine Verknüpfung der Schätzungen zu den demografiebedingten Kosten und den Kosten für den Klimaschutz verzichtet. Anzunehmen ist aber, dass eine Verknüpfung das finanzielle Gesamtbild vor allem langfristig deutlich verschlechtern würde.