Seit langem und mit Leidenschaft wird darüber diskutiert, ob die Gehirne von Frauen und Männern anders ticken. Jetzt zeigt eine KI mögliche Unterschiede.
«So etwas Fremdes soll in meinem Körper wachsen!», rief eine Freundin überrascht. Die Ärzte hatten ihr mitgeteilt, dass sie einen Buben erwarte. Die spontane Reaktion der werdenden Mutter entlarvte, für wie gross sie die Unterschiede zwischen den Geschlechtern hält.
Gängige Klischees über Unterschiede im Verhalten zwischen Männern und Frauen sind schnell gefunden. Das beginnt schon ganz früh: Buben fordern Raum und Aufmerksamkeit, Mädchen verhalten sich unauffällig. Doch gerade dort, wo dieses Verhalten entsteht – im Gehirn –, fanden Wissenschafter bisher keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern.
Trotzdem geben Forscher nicht auf. Und das aus gutem Grund. Wenn nämlich im Gehirn etwas falsch läuft, wenn Störungen oder Krankheiten auftreten, dann scheint das Geschlecht eine Rolle zu spielen. Der typische Alkoholabhängige ist ein Mann, und das autistische oder hyperaktive Kind ist meist ein Bub. Wer hingegen depressiv ist oder unter Ängsten leidet, ist häufig ein Mädchen oder eine Frau, und später im Leben erkranken Frauen häufiger an einer Demenz. Wissenschafter versuchen heute, diese Beobachtung zu erklären.
Erzählung über das weibliche und das männliche Gehirn war nie belegt
In der Populärwissenschaft hält sich eine Erzählung hartnäckig: Männer denken eher mit der linken, Frauen eher mit der rechten Hirnhälfte. Eine Studie im Fachjournal «Science» hatte diese Idee im Jahre 1982 in die Welt gesetzt. Und sie fiel in der Öffentlichkeit auf fruchtbaren Boden.
Die Autoren der Studie zeigten, dass die anatomische Verbindung zwischen den Hirnhälften bei Frauen stärker ausgeprägt ist als bei Männern. Und dieser Nervenstrang, das sogenannte Corpus callosum, leitet elektrische Signale von einer Hirnhälfte in die andere und zurück.
Die israelische Neurowissenschafterin Anat Biegon hat in den 1970er Jahren damit begonnen, Geschlechtsunterschiede im Gehirn wissenschaftlich zu erforschen. Sie erinnert sich an jene Zeit. Meist sei es darum gegangen, herauszufinden, ob der Mann oder die Frau besser sei, sagt Biegon heute. Und auch ausserhalb der Forschung – etwa auf Partys – seien Geschlechterunterschiede ein äusserst beliebtes Thema gewesen.
Viele haben diese Studie als Beweis dafür herangezogen, dass Männer eben logisch und rational denken – weil sie vor allem eine Hirnhälfte verwenden. Und kurzerhand verortete man Logik in jener Hirnhälfte. Die Frauen konterten ihrerseits, sie dächten eben ganzheitlicher, lebenspraktischer. Doch diese Erzählung war aus zwei Gründen fehlerbehaftet.
Einerseits war sie schlichtweg naiv. Man wusste in den 1980er Jahren schon zu viel über das Gehirn, als dass man aufgrund einer solchen anatomischen Beobachtung ernsthaft auf eine Veranlagung im Denken hätte schliessen können.
Kein anatomischer Unterschied im Gehirn
Andererseits war der vermeintliche Unterschied im Gehirn nie wissenschaftlich belegt worden. Die Studie war schon damals stark umstritten. Denn lediglich 14 Gehirne von Männern und 14 Gehirne von Frauen waren untersucht worden. Kritiker merkten an, dass sich das Ergebnis kaum mit anderen Versuchspersonen reproduzieren liesse. Und sie behielten recht. Das Ergebnis blieb ein Einzelbefund und wurde nie zum wissenschaftlichen Konsens.
Dem Siegeszug, den die Idee in populären Erzählungen antrat, tat dies jedoch keinen Abbruch. Heute gilt diese Episode aus der Geschlechterforschung als Beispiel dafür, wie sich einzelne Studien instrumentalisieren lassen und unbelegte Ideen aus der Wissenschaft ein Eigenleben entfalten.
Gut vierzig Jahre nach der dubiosen Studie wissen wir, das männliche Gehirn ist im Durchschnitt elf Prozent grösser als das weibliche. Doch keine Hirnregion ist bei einem Geschlecht stärker ausgeprägt als beim anderen. Und die unterschiedliche Grösse des Gehirns scheint – anders als bei der Lunge beispielsweise – die Leistung des Organs nicht zu beeinflussen.
In den letzten Jahrzehnten haben Psychologen Denken, Intelligenz und Wahrnehmung bei Männern und Frauen nach allen Regeln der Kunst verglichen, und sie finden nichts, was typisch männlich oder typisch weiblich wäre. Dass sich Kinder heute unabhängig von ihrem Geschlechte gemäss ihren Neigungen entfalten dürfen, spielt dabei sicher eine grosse Rolle.
Die amerikanische Neurowissenschafterin Lise Eliot schrieb 2021 nach einer Analyse sämtlicher verfügbaren Studien im Fachjournal «Neuroscience and Behavioral Reviews» klipp und klar: «Es gibt keinen sexuellen Dimorphismus im Gehirn» – keinen anatomischen Unterschied also zwischen den Gehirnen von Frauen und Männern. Und doch sucht auch sie weiter nach Unterschieden.
Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind in der Medizin relevant
«Auch wenn wir die wichtigen Unterschiede noch nicht gefunden haben: Kommt es zu Störungen im Gehirn, so hat das Geschlecht offensichtlich einen Einfluss», sagt die schwedische Forscherin Biegon.
Heute suchen Forscherinnen und Forscher nach Erklärungen, warum vor allem Frauen an Demenz erkranken und Buben häufiger an Entwicklungsstörungen leiden. Kurz, heute geht es nicht mehr darum, welches Geschlecht besser ist. Die Motivation der Wissenschaft ist weit seriöser.
So hat man inzwischen zum Beispiel herausgefunden, dass das weibliche Geschlechtshormon Östrogen den Auf- und Abbau von Zellverbindungen beeinflusst. Diese Erkenntnisse aus der Tierforschung legen nahe, dass das Gehirn von Frauen in der fruchtbaren Lebensphase monatlich einen zyklischen Umbauprozess durchläuft.
Die beim Menschen verfügbaren Messmethoden zur Grösse und Vernetzung von Hirnstrukturen können dies allerdings nicht abbilden. Diesem Manko versuchen Forscher heute durch modernere Datenanalysen zu begegnen: mithilfe der künstlichen Intelligenz.
Künstliche Intelligenz erkennt verborgene Muster im Gehirn
Mit diesen Methoden könnte den Wissenschaftern der Stanford University in Kalifornien nun ein Durchbruch gelungen sein. Sie fütterten eine künstliche Intelligenz mit Daten zur Hirnaktivität von mehr als 1500 Frauen und Männern.
Die Versuchspersonen taten oder dachten während der Messung im Kernspintomografen nichts Spezifisches. Diese spontane Hirnaktivität soll die individuelle Grundorganisation des Gehirns abbilden, wie die Wissenschafter im vergangenen Februar im Fachjournal «PNAS» schreiben.
Die gesammelten Daten verwendeten die Wissenschafter, um eine künstliche Intelligenz zu trainieren. Dieser Algorithmus sucht selbständig nach Regelmässigkeiten in der Hirnaktivität und erkennt auch Aktivitätsmuster, die herkömmliche Analysen nicht aufdecken.
Unterschiedliche Hirnaktivität führt zur selben Leistung
Von jeder der Versuchspersonen waren weitere Messungen vorhanden, etwa die Leistung in typischen Denkaufgaben wie Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis, logisches Denken und andere. Messungen also, in denen sich keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen finden lassen.
Nach dem Training war die künstliche Intelligenz in der Lage, aufgrund der Hirnaktivität nicht nur das Geschlecht einer Versuchsperson, sondern auch deren Leistung in den Denkaufgaben vorherzusagen. Selbst bei einer Versuchsperson, die nicht für das Training des Algorithmus verwendet worden war, gelang die Vorhersage.
Diese Form der Analyse hat allerdings auch Nachteile: Verborgen bleibt nämlich, welche Art von Hirnaktivität der Algorithmus für die Vorhersage verwendet. «Doch das Ergebnis zeigt, dass das Gehirn von Männern und Frauen dasselbe, aber mit einer anderen Art von Hirnaktivität leistet», schreiben die Autoren.
Nur eine Frage bleibt zu klären: Lassen sich diese Ergebnisse in Zukunft von anderen Forschern reproduzieren? In einigen Jahren werden wir dies hoffentlich wissen. Und dann wird vielleicht auch klarer, was die unterschiedliche Hirnaktivität genau bedeutet.