Junge veranstalten Offline-Lese-Events und nennen es Silent Reading Rave. Auf den Spuren eines Phänomens.
Der junge Mann in Trainerhosen schiebt den Vorhang beiseite und späht in den vollen Saal. Darin sitzen rund sechzig Personen an Tischen, jeder Platz ist besetzt. Stille schlägt ihm entgegen. Alle lesen, keiner spricht. Schnell macht der junge Mann auf dem Absatz kehrt.
«Was geht denn da ab?», fragen zwei Besucherinnen die Barfrau des «Gleises», einer Bar unweit der Zürcher Langstrasse. «Silent Reading Rave», antwortet diese kryptisch. «Aha, ‹silent›», sagen die Besucherinnen. Man habe sich schon gewundert, warum es so ruhig sei.
Was wirkt wie eine eingeschworene Gesellschaft, wie die Zeremonie eines verschwiegenen Geheimordens irgendwo in einem Hinterzimmer, ist am Ende nichts anderes als ein Lesezirkel.
An sogenannten Silent Reading Raves wie jenem an diesem Samstagmittag treffen sich Menschen, um gemeinsam zu lesen. Zwei Stunden lang schmökern sie in ihrer mitgebrachten Lektüre. Was nicht hohe Literatur sein muss: Jemand liest Comics, ein anderer einen Klassiker, ein Dritter den neusten Stoff fürs Studium.
Handys sind nicht verboten, werden aber höchstens diskret hervorgekramt. Die Geräte passen nicht zu einem Anlass, an dem die Menschen bewusst Ruhe und ein Offline-Gefühl suchen.
Angefangen hat alles auf der grünen Wiese, wortwörtlich gesprochen. Dort versammelte der Mitgründer Fabian Weingartner vor über fünf Jahren ein paar Freunde und Bekannte um sich. Die Veranstaltung wuchs mit jedem Mal, mittlerweile folgen der Reihe über 4000 Leute in den sozialen Netzwerken.
Janik und Patrick sind Stammgäste, seit Jahren sind sie dabei. Eine halbe Stunde vor Lesebeginn haben sie sich mit Kaffee und Kuchen eingerichtet. Sie winken links und rechts, man kennt sich im Zirkel, dessen Teilnehmer im Schnitt um die 30 Jahre alt sind.
«Zu Hause sitze ich nicht zwei Stunden hin, um zu lesen», sagt Patrick, 28, Softwareentwickler. Da fehle ihm die Disziplin: Entweder fange er an zu putzen, oder er krame das Handy hervor. Janik, 28, im Marketing, liest hier andere Literatur als zu Hause. Hier nimmt er sich etwa die Statistik zur Brust. «Weil ich am Rave viel fokussierter lesen kann.»
Es braucht einen Termin, damit sich die Leute Zeit nehmen
Warum braucht es einen öffentlichen Anlass, damit junge Leute lesen können?
Fabian Weingartner beobachtet, dass viele Menschen «aus einem tiefen Gefühl heraus» mehr lesen möchten, aber schlicht nicht mehr dazu kämen. Der Rave biete eine gesteigerte Form der Konzentration. Dabei spiele auch der Gruppendruck eine Rolle, der automatisch entstehe, wenn man zusammensitze.
Weingartner fällt auf, dass viele Besucherinnen und Besucher Teil eines Happenings sein möchten. Auch wenn Lesen die vielleicht individuellste Erfahrung überhaupt sei, findet Weingartner, komme am Rave ein Gefühl des Gemeinsamen auf. Konzerte funktionierten ähnlich.
Apropos Musik: «Rave» heisst der Anlass vor allem zu Werbezwecken. Hiesse er «Lesezirkel», glaubt Weingartner, wäre niemand gekommen. Als Alternative zum Nachtleben sieht man sich aber schon. Mancher Silent Reading Rave findet denn auch zu später Stunde statt.
Linda Hruza, 38, gibt an dem Mittag im «Gleis» die Conférencière. Sie begrüsst die Anwesenden, erklärt kurz die Spielregeln («Stille!»), und nach zwei Stunden wird sie die Pop-Musik wieder aufdrehen.
Die Leute seien dankbar, dass sie hier zwei Stunden für sich bekämen, sagt Hruza. «Das ist ja auch das Surreale am Ganzen. Dass es zuerst einen Termin braucht, damit die Leute sich wieder Zeit nehmen.»
Debora, 24, sagt, wenn sie im stillen Kämmerlein lese, fühle sie sich einsam. Dann greife sie aus Einsamkeit zum Handy und sei prompt wieder abgelenkt. «Am Rave dagegen verbindet einen das Kollektiv, man muss dafür nicht einmal mit jemandem reden.»
Jemand am Silent Reading Rave hat für diesen Zustand einen Satz erfunden: gemeinsam einsam sein.
Und so lesen sie. Die Atmosphäre gleicht jener in einer Bibliothek, nur das passiv-aggressive «Pst!» zwischendurch fehlt. Bei manchem Gast weiss man nicht, ob er noch liest oder schon kontemplativ döst.
Ein Ort für brutalen Stoff
Es gibt Leseratten, und dann gibt es noch Leute wie Annette: Sie nennt sich Leseaktivistin. Aktivistin deshalb, erzählt sie, weil sie sich bewusst für ein Buch entscheide.
Die Aktivistin zeigt auf ihr mitgebrachtes Buch von der weissrussischen Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Sie lese hier eben jenen Stoff, der ihr daheim zu brutal sei. «Für diese Lektüre brauche ich Leute um mich herum», sagt sie. Das findet sie aktivistisch.
Dutzende von Menschen am Lesen. Eine junge Frau liest derart versunken, dass sie aufschreckt, als ihr eine Bekannte auf die Schulter tippt. Jemand anderes bohrt gedankenverloren in der Nase. Nach genau zwei Stunden ertönt Pop-Musik aus Lautsprechern.
Manche bleiben noch etwas sitzen, das Gros verabschiedet sich aber zügig. Philine, 28, im Umweltschutz, war zum ersten Mal dabei. Sie denkt laut darüber nach, wie sie den Anlass fand. «Es ist etwas Soziales. Aber man kann nichts Soziales machen, weil man ja schweigen sollte», sagt sie.
In einem Monat treffen sie sich wieder, irgendwo in Zürich. Die Organisatoren um Weingartner und Hruza möchten ihre Treffen auch in anderen Schweizer Städten abhalten. Dabei wollen sie aber nicht zu kommerziell werden, wie sie sagen. Das Angebot müsse niederschwellig, also gratis bleiben.
Eines gelte es zu bewahren, sagt Weingartner. Nämlich dieses Langsame, das im schnellen Zürich für zwei Stunden einen Gegenpol biete.