Die bevorstehende Abspaltung von Holcim Nordamerika hat die Aktien des Konzerns in die Höhe getrieben. Doch welcher der beiden Unternehmensteile bietet langfristig die besseren Chancen?
Die Aufteilung des Baustoffkonzerns Holcim in zwei unabhängige Unternehmen rückt näher. Das Spin-off des Nordamerikageschäfts (USA und Kanada, ohne Mexiko), das Amrize heissen wird, und seine Kotierung an der US-Börse sollen im zweiten Quartal abgeschlossen werden – unter Vorbehalt der Zustimmung der Aktionäre an der ausserordentlichen Generalversammlung vom 14. Mai.
Für Investoren stellt sich nun die Frage: Welches der beiden Unternehmen bietet langfristig die besseren Chancen?
Fest steht: Seit der Ankündigung der Abspaltung am 28. Januar 2024 ist der Kurs der Holcim-Aktien um über 45% gestiegen – auf ein Niveau, das letztmals 2008 erreicht wurde. Damit haben sie sich deutlich besser entwickelt als der Gesamtmarkt.
Holcim zählt – ähnlich wie der deutsche Konkurrent Heidelberg Materials und der in New York kotierte irische Konzern CRH – zu den weltweit führenden Akteuren in der Baustoffindustrie.
Holcim gliedert ihr Geschäft in vier Kernbereiche, die verschiedene Baustoff- und Baulösungen abdecken:
- Zement: Produktion und Vertrieb von Zement als Hauptbestandteil von Beton. CO₂-reduzierte Zementsorten (z. B. ECOPlanet, Susteno).
- Transportbeton (Ready Mix): Herstellung und Lieferung von Frischbeton für Bauprojekte. Spezialbetons mit besonderen Eigenschaften (z. B. selbstverdichtend, ultrahochfest, CPC-Betonelemente [Carbon-Prestressed-Concrete-Technologie]).
- Zuschlagstoffe (Aggregates): Gewinnung und Verarbeitung von Sand, Kies und Schotter für die Bauindustrie. Recyclingmaterialien zur Förderung der Kreislaufwirtschaft.
- Solutions & Products: Roofing: Dachlösungen wie Abdichtungen, Gründächer, Solardächer. Trockenbaumaterialien: Fertigmörtel, Putz, Kleber. Fertigbaulösungen: vorgefertigte Betonprodukte, 3-D-Druck-Technologie. Nachhaltige Baulösungen: CO₂-arme Baustoffe, Recyclinglösungen.
Was den Kursanstieg konkret erklärt
«Holcim hat sich in den letzten Monaten operativ hervorragend entwickelt. Die Aktionäre profitierten zudem von einer attraktiven Dividende», sagt Marc Strub, Fondsmanager bei der Privatbank Reichmuth & Co. Das im März 2024 gestartete Aktienrückkaufprogramm im Umfang von über 1 Mrd. Fr. wurde bereits im Dezember abgeschlossen.
Ende Woche präsentiert der Zementkonzern seine Jahreszahlen 2024. Erwartet werden ein Umsatz von 26,7 Mrd. Fr. und ein Rekord-Ebit von 5 Mrd. Fr.
Der Kursanstieg seit der Ankündigung spiegelt auch die höhere Profitabilität und Wachstumsdynamik des US-Geschäfts.
Die abgespaltene Einheit fokussiert sich stärker auf das margenstarke Aggregates-Segment, das mit Transportbeton ein Drittel des Umsatzes ausmacht. Zudem fällt der ESG-Malus für Zement produzierende Unternehmen in Nordamerika geringer aus als in Europa. Dazu kommt, dass in den USA kotierte Gesellschaften generell eine höhere Bewertung als in Europa erzielen.
Das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) auf Basis der Konsensschätzungen für die nächsten zwölf Monate liegt derzeit bei gut 16, und der Unternehmenswert (EV) entspricht dem 9,7-Fachen des Ebitda – beides über dem Zehnjahresdurchschnitt.
Es stellt sich daher die Frage, inwieweit die Abspaltung von Holcim Nordamerika bereits im Kurs berücksichtigt ist. Orientierung bieten US-Konkurrenten mit EV-Ebitda-Multiples von 11 (Zement) bis 17 (Aggregates). Der Bereich Aggregates umfasst Unternehmen wie Martin Marietta Materials und Vulcan Materials.
«Holcim erhofft sich wohl insgesamt eine höhere Bewertung, weil man erwartet, dass das schneller wachsende US-Geschäft zu höheren Multiples handeln könnte. Dies hat sicher eine Berechtigung, ist aber keine operativ begründete Transaktion, sondern fällt unter die Kategorie Financial Engineering», argumentiert Stefan Frischknecht, Leiter Aktien Schweiz beim Vermögensverwalter Schroders.
Was zur Ausgangslage bekannt ist
Damit langfristig Mehrwert für Aktionäre entsteht, sind vor allem die individuelle Strategie, die Führung und die finanzielle Ausstattung der beiden Unternehmen entscheidend.
Jan Jenisch, derzeit Verwaltungsratspräsident von Holcim, wird Konzernchef und VR-Präsident des Spin-off, dessen Name sich aus den Begriffen «Ambition» und «Rising» ableitet. Seit 2017 hat er als Geschäftsführer Holcim strategisch neu ausgerichtet, das Zementgeschäft verkleinert und durch den Ausbau des Segments Solutions & Products eine «Sikanisierung» des Unternehmens vorangetrieben. Gleichzeitig hat Holcim im Transportbeton- und Zuschlagstoffbereich stark zugekauft und den Fussabdruck in attraktiven Märkten erweitert. Der frühere Sika-CEO gilt bei vielen Investoren als einer der besten Unternehmenslenker weltweit.
Die verbleibende Holcim wird auch künftig von Miljan Gutovic, dem derzeitigen Holcim-CEO und früheren Europa-Chef, geleitet. Gutovic kennt sein Wirkungsfeld in- und auswendig. Kim Fausing, zurzeit Mitglied des Verwaltungsrats, übernimmt das Amt des Präsidenten.
Das Nordamerikageschäft soll an der Schweizer Börse SIX kotiert bleiben, um europäischen und besonders Schweizer Investoren den Zugang zu erleichtern. Zudem wird die Aufnahme in den S&P 500 angestrebt, was jedoch mehrere Quartale dauern kann.
Diese Fragen des Spin-off sind noch ungeklärt
Die beiden Kapitalmarkttage – jeweils für die beiden zukünftigen Unternehmen separat – dürften bald nach der Bekanntgabe der Jahresresultate stattfinden und sollen letzte offene Fragen klären.
Einige Antworten sind absehbar.
Die Verpflichtungen beider Unternehmen sollen ein Investment-Grade-Rating erhalten, wobei die Schulden voraussichtlich fair aufgeteilt werden, um einen ähnlich hohen Verschuldungsgrad zu gewährleisten. Die Ausgangslage diesbezüglich ist gut; in den vergangenen Jahren wurden die Schulden konsequent reduziert.
Die Nettoverschuldung betrug 2018 noch fast das 2,2-Fache des Ebitda. Ende 2024 soll sie gemäss Konsensschätzungen jedoch nur noch so hoch wie der Betriebsgewinn auf Stufe Ebitda gewesen sein.
Angesichts der geopolitischen Lage ist es unwahrscheinlich, dass der Steuersitz von Amrize in der Schweiz angesiedelt wird.
Das Baustoffgeschäft war aufgrund hoher Transportkosten und anspruchsvoller Logistik schon immer stark regional geprägt. Deshalb produziert Holcim ihre Materialien überwiegend vor Ort und ist nicht von US-Zöllen betroffen.
Grosse Ambitionen in Nordamerika, aber auch in Europa
The Market sieht das Spin-off des Nordamerikageschäfts als strategischen Schritt aus einer Position der Stärke, was sich in den ambitionierten Zielen für 2030 spiegelt.
Holcim Nordamerika betreibt an die 900 Standorte, darunter etwa 400 Zuschlagstoffwerke sowie fünf Forschungs- und Entwicklungszentren. In den USA ist sie bereits Marktführer im Zementgeschäft, die Nummer drei bei Dachlösungen sowie die Nummer fünf bei Zuschlagstoffen und Fertigbeton.
Durch das Spin-off wird Amrize zum grössten Baustoffhersteller in den USA, einem wachstumsstarken Markt mit einem Volumen von 175 Mrd. $. Infrastrukturprojekte – von KI-Datenzentren über Häfen, Strassen und Brücken – bieten enormes Wachstumspotenzial, nicht nur für Neubauten, sondern auch für Sanierungen. Auch die Rückverlagerung der Produktion bietet Chancen.
Die verbleibende Holcim wird zum führenden Baustoffunternehmen in Europa und dem Rest der Welt und fokussiert sich unter anderem auf Portfoliooptimierung. Attraktiv bleiben dürften die nordafrikanischen Länder und Ozeanien. Das Gleiche gilt für Südamerika, getrieben durch Bevölkerungswachstum und steigende Infrastrukturinvestitionen, insbesondere in Mexiko, war das organische Wachstum dort zuletzt doch höher als in Nordamerika.
In Europa wird sich die Rest-Holcim stärker auf Nachhaltigkeit und Akquisitionen in den Bereichen Solutions & Products und Zuschlagstoffe konzentrieren. Der Konzern ist bereits führend im Mörtelgeschäft und hat in Deutschland mit ZinCo im Bereich Dachbedeckung expandiert. Künftig ist ein höheres Tempo bei den Akquisitionen absehbar. Das Marktumfeld begünstigt auch grössere Transaktionen, was die finanzielle Ausgangslage gut zulässt.
Ein zentraler Treiber ist der wachsende Bedarf an nachhaltigen Baustoffen und zirkulärem Bauen in Europa, was dank dem Renditeaufschlag von bis zu 25% für nachhaltigen Zement auch lukrativ ist. Ab 2030 rückt die von der EU subventionierte CCUS-Technologie (Kohlenstoffabscheidung, -nutzung und -speicherung) in den Fokus, mit dem Ziel, bis 2050 mit der Produktion klimaneutraler Baustoffe einen Wettbewerbsvorteil zu erzielen.
Holcim nutzt Kapital effizienter
The Market findet es glaubwürdig, dass die gezielte Ausrichtung auf unterschiedliche Marktanforderungen beide Unternehmensteile schneller und profitabler wachsen lässt als Holcim in ihrer jetzigen Form.
Die Abspaltung ist sinnvoll, wenn sich beide Unternehmensbereiche getrennt besser entfalten können, argumentiert auch Martin Hüsler, Analyst bei der Zürcher Kantonalbank (ZKB). Beide Teile verfügen über starke Führungsteams und solide Marktpositionen – vielversprechende Grundlagen für die Zukunft.
Gerade die Ausgangslage in Bezug auf die Kapitalrendite (Return on Invested Capital, ROIC) hat sich stetig verbessert, was zeigt, dass Holcim investierte Mittel zunehmend gewinnbringend einsetzt.
Damit relativiert sich auch der eine Parameter, der bei Holcim seit Jahren wegen Währungsumrechnungen und hoher Ausschüttungen auf der Stelle tritt: der Buchwert je Aktie, das Eigenkapital der Aktionäre.
An der Profitabilität oder der Entwicklung des Eigenkapitals der Aktionäre liegt es nicht, dass die Holcim-Titel an der Börse zuletzt schlechter abschneiden als die von Heidelberg Materials. Vielmehr denkt der deutsche Mitbewerber auch über eine US-Kotierung nach, optimiert sein Portfolio, kommt von einer tieferen Bewertung her, und das Umsatzwachstum war zuletzt stärker. Holcim bleibt wegen der höheren Profitabilität langfristig attraktiver.
Warum beide Titel ein Kauf sind
Alle Augen dürften am Tag X auf Amrize gerichtet sein, denn die «Jenisch-Einheit» will sich als führendes Pure Play im Bereich Building Solutions etablieren und mit starkem Umsatzwachstum glänzen – was der Bewertung zusätzlichen Spielraum nach oben gibt. Zudem gilt die Jenisch-Doppelbesetzung nahezu als Erfolgsgarantie.
Im Gegensatz dazu dürfte die Rest-Holcim vor allem über den Ebit und den freien Cashflow wachsen und mit einer attraktiven Dividende punkten. «Ein Schweizer Aktionär kann sich in den nächsten sieben bis acht Jahren über eine steuerfreie Dividende aus Kapitaleinlagereserven freuen», betont Strub.
Auch technologisch spricht vieles für ein Investment: Mit über 300 Forschern in Lyon und Holderbank betreibt Holcim das grösste Forschungs- und Entwicklungszentrum der Baubranche. Sie hält über 330 Patentfamilien, wobei Nachhaltigkeit zwei Drittel des Patentportfolios für zementbasierte Produkte ausmacht.
The Market empfiehlt Holcim-Aktionären daher, nach dem Spin-off beide Titel im Portfolio zu behalten und je nach Anlagestrategie gezielt zu investieren: Amrize für Wachstum und Kursavancen oder die neue «Schweizer» Holcim als attraktiver, «grüner» Dividendenwert. Beide sind in ihrem Anlageuniversum ein Kauf.