Im Dezember hat Marco Bayer aus dem Nichts den vielleicht attraktivsten Job im europäischen Eishockey übernommen. Im Play-off-Halbfinal gegen Davos spielt der Zürcher auch um seinen Job.
Die Nächte seien kurz geworden, sagt Marco Bayer. Seit er Ende Dezember bei den ZSC Lions über Nacht die Nachfolge des aus gesundheitlichen Gründen abgetretenen Meistertrainers Marc Crawford antrat, schläft er durchschnittlich nur noch knapp fünf Stunden pro Nacht. Es ist schwierig geworden, Ablenkung zu finden. Manchmal findet Bayer sie in der Meditation. Oder bei Heimspielen des SC Freiburg, Bayer besitzt dort eine Saisonkarte. «Der Kopf rotiert. Die Gedanken kreisen Tag und Nacht um das Eishockey», sagt er.
Das ist nachvollziehbar. Bayer hat lange auf diese Gelegenheit gewartet, er weiss, dass er sie nutzen muss, weil sie sich vielleicht nie wieder bietet. Er hat sich nach dem Ende seiner Spielerkarriere 17 Jahre lang eher im Schatten bewegt. Er war Nachwuchscoach, Assistent, kurz Sportchef der SCL Tigers und zuletzt Cheftrainer der GCK Lions. Er musste 52 Jahre alt werden, um in der National League draussen im Wind zu stehen. Und dann wurden es gleich die ZSC Lions, die Premium-Organisation im europäischen Eishockey. Für die nur Titel gut genug sind.
Als Spieler hat Bayer einen anderen ZSC erlebt, in den 1990er Jahren unter Arno Del Curto. Es waren die wilden Jahre im verrauchten Hallenstadion, als der Klub noch Zürcher SC hiess und dem Abstieg näher war als der Meisterschaft. Del Curto war es, der Bayer zum Verteidiger umfunktionierte. «Als Stürmer reichst du nicht», beschied er ihm. Aus Bayer wurde einer besten Verteidiger des Landes, er bestritt zwei Weltmeisterschaften.
Es war die Verwirklichung eines Traumes, der in den 1970er Jahren in Dübendorf zu gären begann. Bayers Vater war im EHC Dübendorf als Spieler und TK-Chef involviert. Die Mutter unterrichtete Eiskunstlauf und arbeitete an der Kasse der Eisbahn. Das war Bayer und seinem jüngeren Bruder Claudio, später jahrelang Torhüter von Rapperswil-Jona, sehr kommod, weil sie so fast Tag und Nacht dort verbringen konnten, bis zur Ermüdung.
Ins Freundschaftsbuch schreibt er, dass er Hockeyprofi werden will
Als man ihm in der Primarschule eines dieser Freundschaftsbücher reichte, in denen sich Knirpse per Steckbrief verewigen, trug Bayer im Feld des Berufswunschs immer das Gleiche ein: dass er Eishockeyprofi werden wolle. Obwohl es diesen Beruf in der Schweiz da eigentlich noch gar nicht gab. Mit 16 debütierte er bei Dübendorf in der 1. Liga. Und tingelte dann durch das Land: Davos, wo er seine Maurerlehre abschloss. Chur, Kloten, Ambri, unter anderem.
Das Nomadentum hat ihn trefflich auf die zweite Karriere vorbereitet –es ist den wenigsten Trainern vergönnt, allzu lange am gleichen Ort zu wirken. Inklusive seiner Zeit als Spieler stand Bayer bei acht NL-Organisationen auf der Lohnliste. Er hat etwas gesehen von diesem Land, vom Schweizer Eishockey. «Mein Rucksack ist gefüllt», sagt er.
Als der ZSC-Sportchef Sven Leuenberger ihn im Dezember mit dem Jobangebot überraschte, bat er um eine Bedenkzeit von 30 Minuten. Er musste sich sammeln und darüber nachdenken, welche Konsequenzen das hat: plötzlich ZSC-Trainer zu sein. In der Öffentlichkeit zu stehen, je nachdem im Fadenkreuz. Bayer und seine Partnerin sind seit 27 Jahren zusammen, das Paar hat drei Kinder.
Und dann diese Eigenart, dass es sich gleichzeitig um eine einmalige Chance und eine sehr diffizile Aufgabe handelt: Es ist der ZSC, klar, aber wie bewahrt man das Erbe eines so erfolgreichen Vorgängers? Wie empfänglich sind die Spieler für neue Ideen, wenn die alten offensichtlich gut funktionierten? Und wie emanzipiert man sich von Crawford, der in Kanada jedes Spiel schaut und in den ersten Wochen Ratschläge gibt? «Es ist eine der schwierigsten Konstellationen überhaupt», sagt Bayer.
Bisher hat er die Herausforderung vorbildlich gemeistert. Der ZSC hat mit ihm die Champions Hockey League gewonnen und die Play-off-Viertelfinalserie gegen Kloten souverän gemeistert.
Wie hat sich sein Leben verändert in den vergangenen drei Monaten? Was ist anders als bei GCK, dem Farmteam in der Anonymität von Küsnacht, dessen Zuschauerschnitt bei 211 Besuchern liegt? Bayer sagt, dass er auf der Strasse erkannt und angesprochen werde. Und dass sich die Arbeit nicht vergleichen lasse: «Bei GCK ging es darum, Spieler auszubilden und weiterzuentwickeln.» Der ZSC sei ein reines Resultatteam. «Du musst als Trainer anders auftreten und überzeugender wirken. Wir müssen Spiele gewinnen», sagt Bayer.
Das gilt nicht zuletzt für ihn selbst. Sein Vertrag läuft bis 2027, aber es ist nicht klar, welche Rolle er ab dem Sommer bekleiden wird; ob er bei GCK oder im ZSC wirkt. Und ob er Meister werden muss, damit er den ZSC-Job behalten kann. Entschieden wird so oder so erst nach der Saison.
Del Curto, Suhonen, Jursinow: Bayer erlebte viele Toptrainer
Bayer ist ein anderer Coach, als Crawford es war, er ist leiser, zurückhaltender und wohl auch weniger bestimmt. Er hat in seinen fast vierzig Jahren viele Trainer erlebt, «gute und schlechte», sagt Bayer, gelernt hat er von allen, und wenn es teilweise nur die Erkenntnis war, wie man es sicher nicht machen sollte. Bayer spielte unter Granden wie Del Curto, Wladimir Jursinow und Alpo Suhonen. Bei der Nationalmannschaft diente er als Assistent Patrick Fischer zu. Es ist unstrittig, dass Bayer das Rüstzeug für diesen Job mitbringt. Die Frage ist, ob er die Ausstrahlung hat, um dieses Starensemble auf Kurs zu halten. Die Fähigkeit, so viele Egos kunstvoll zu massieren.
Der Titel in der Champions Hockey League habe ihm geholfen, sagt Bayer, es hat seiner Herangehensweise Legitimation verliehen.
Nun wartet im Halbfinal der Rekordmeister Davos, ein hungriges Team, das seit zehn Jahren darauf wartet, wieder den Final zu erreichen. Wie sieht es mit dem Sättigungsgrad im ZSC aus, nach dem Meistertitel von 2024 und dem CHL-Triumph vom Februar? Er spüre den Hunger, sagt Bayer und liefert diese Erklärung für seine These: «Viele Teams hätten im fünften Spiel gegen Kloten resigniert. Aber die Jungs haben gekämpft und Charakter bewiesen. Das zeigt, wie viel Feuer in meiner Mannschaft steckt.» Das ist der ZSC im März 2025: Bayers Mannschaft. Bald wird man wissen, für wie lange noch.