Ob Bildung, Wohlstand oder Investitionen – Indiens Süden zieht dem Norden immer mehr davon. Der Partei von Premierminister Modi fällt es mit seinem Hindu-nationalistischen Kurs schwer, dort Fuss zu fassen. Er muss seine Politik überdenken.
Narendra Modi strotzte im Wahlkampf vor Selbstbewusstsein – und die Daten geben ihm recht. Eine dritte Amtszeit als Premierminister ist ihm quasi sicher. Seine Bharatiya Janata Party (BJP) führt in allen Umfragen. Modi hat als Ziel ausgegeben, im Parlament 370 der 543 Mandate zu erobern. Mit seinen Koalitionspartnern will er gar die Schwelle von 400 Sitzen knacken. Die Kongresspartei hat sich zwar mit anderen Oppositionsparteien in einer neuen Allianz verbündet, doch eine ernste Gefahr für Modi stellt sie nicht dar.
Eine Region des Landes entzieht sich Modi allerdings: Im Süden fällt es seiner BJP schwer, richtig Fuss zu fassen. Bei den letzten nationalen Wahlen 2019 stammten nur 11 Prozent der BJP-Wähler aus dem Süden. Dabei leben 20 Prozent der indischen Bevölkerung in Andhra Pradesh, Karnataka, Kerala, Tamil Nadu und Telangana. In drei dieser Staaten gewann die BJP bei der Parlamentswahl 2019 keinen einzigen Sitz. Insgesamt errang sie nur 29 der 129 Sitze in diesem Landesteil.
Mit Ausnahme von Karnataka hat die BJP in den fünf Staaten Südindiens nie richtig punkten können. Nachdem sie letztes Jahr bei den Regionalwahlen auch Karnataka an die Kongresspartei verloren hat, stellt sie gegenwärtig in keinem der fünf Teilstaaten die Regierung. Die Hindu-nationalistische Partei schneidet vor allem im weniger entwickelten, aber bevölkerungsreicheren Norden gut ab. Ihre Hochburgen liegen in Uttar Pradesh, Gujarat und Rajasthan.
Südindien ist wohlhabender und besser gebildet
Südindien unterscheidet sich nicht nur beim Wahlverhalten, sondern auch in seiner sozialen Entwicklung immer stärker vom Norden. Das Bildungsniveau, der Lebensstandard und das Pro-Kopf-Einkommen sind höher, die Armut ist geringer. Gerade Kerala hat dank der jahrzehntelangen erfolgreichen Bildungs- und Gesundheitspolitik der kommunistischen Regionalregierung eine hohe Alphabetisierungsrate (auch bei Frauen) und eine niedrige Kindersterblichkeit.
Angesichts des hohen Bildungsstands kann es nicht überraschen, dass der Süden auch bei wirtschaftlichen Indikatoren besser abschneidet. Die Region zieht mehr Auslandsinvestitionen als der Norden an und erbringt den Grossteil der IT-Dienstleistungen, für die Indien in den letzten Jahren bekannt geworden ist. Überdurchschnittlich viele Tech-Startups stammen aus dem Süden, und internationale Firmen wie Amazon und Microsoft haben ihren Sitz in Bangalore, Chennai und Hyderabad.
In vieler Hinsicht steht Südindien für die Zukunft des Landes: Die Bevölkerung ist besser gebildet, gesünder und wohlhabender. Die Wirtschaft ist dynamischer und innovativer. Der Wohlstand ist nicht ganz so ungleich verteilt wie in anderen Landesteilen. Gerade im Vergleich mit Uttar Pradesh ist der Kontrast extrem. Dass Modi, der sich gerne als anpackender Manager und erfolgreicher Reformer darstellt, gerade im prosperierenden Süden nicht punkten kann, stellt für den Premierminister und seine Partei ein Problem dar.
Der Hindu-Nationalismus verfängt im Süden nicht
Die Schwäche der BJP in Südindien hat soziale, kulturelle und historische Gründe. Der aggressive Hindu-Nationalismus der BJP verfängt dort weniger. Zwar ist die Bevölkerung im Süden ganz überwiegend hinduistisch – nur in Kerala gibt es eine starke muslimische und christliche Minderheit. Doch das Verhältnis von Hindus und Muslimen ist entspannter und weniger konfliktreich als im Norden, wo die Hindu-Bevölkerung über Jahrhunderte von einer muslimischen Elite beherrscht wurde.
Die Hindus im Süden sehen laut Umfragen religiöse Fragen auch weniger streng als im Norden. So sind sie etwa bei der emotional aufgeladenen Frage des Verzehrs von Rindfleisch toleranter. Auch spielt der Hinduismus für die Südinder weniger eine Rolle zur Definition der indischen Nation. Es überrascht daher nicht, dass das Bestreben der BJP, eine nationale Identität mit einer Sprache, einer Kultur und einer Religion zu schaffen, in Südindien auf Vorbehalte stösst.
Insbesondere die Propagierung von Hindi als alleinige Nationalsprache kommt dort nicht gut an. Anders als im Norden wird Hindi in den fünf südlichen Teilstaaten kaum gesprochen. Dort sind Malayalam, Kannada, Tamil und Telugu die offiziellen Amtssprachen, während Englisch als Verkehrssprache dient. Viele Südinder fürchten, dass diese Sprachen abgewertet und sie selbst benachteiligt werden, sollte Hindi zur alleinigen Landessprache in Indien erhoben werden.
Hinzu kommt, dass der Süden erst später kolonisiert wurde von den Briten. Die koloniale Prägung von Wirtschaft und Gesellschaft war dort geringer als in Bengalen oder im Ganges-Tal, das bis heute unter den Folgen der Kolonialherrschaft leidet. Dies ist womöglich auch ein Grund dafür, dass die Südinder weniger empfänglich sind für Modis Versprechen, endlich die globale Dominanz der früheren Kolonialmächte zu brechen und Indien zu alter Grösse zurückzuführen.
Der Süden fühlt sich von Delhi benachteiligt
Die Politik der BJP sorgt auch in anderer Weise für Konflikte im Süden. Die Regionalregierungen klagen, dass der Süden mehr Steuern zahle als der Norden, aber weniger Investitionen von der Zentralregierung in Delhi erhalte. Insbesondere beschweren sie sich, dass Modis Regierung wichtige Infrastruktur- und Entwicklungsprojekte im Süden verzögere oder blockiere. In Chennai etwa monieren die Behörden, dass Delhi Gelder für den Bau einer U-Bahn-Linie zurückhalte.
Modi bestreitet, dass seine Regierung die Südstaaten benachteilige. Doch der Unmut ist gross. Im Februar versammelten sich Parteiführer und Abgeordnete aus Südindien in Delhi, um gegen die aus ihrer Sicht unfaire Zuteilung der Steuergelder zu protestieren. «Unsere Steuern, unser Recht», skandierten sie. Zwar ist in einem föderalen Staat Streit um die Verteilung von Steuereinnahmen fast unvermeidbar. Aber der wachsende Nord-Süd-Konflikt birgt Sprengstoff für die Zukunft.
Die Parteien im Süden befürchten, dass sie nach dem nächsten Zensus erst recht ins Hintertreffen geraten. Denn die Bevölkerung im Norden wächst stärker als jene im Süden, wo es seit Jahrzehnten eine effizientere Familienplanung gibt. Entsprechend dürften die Wahlkreise nach der nächsten Volkszählung angepasst werden – zum Nachteil der südlichen Teilstaaten. Dort besteht die Sorge, dass dadurch die Dominanz des Nordens und damit der BJP auf lange Sicht zementiert wird.
Für Indiens Zusammenhalt ist dies gefährlich. Ohnehin wirft die Opposition Modi vor, Teilstaaten zu benachteiligen, die von anderen Parteien regiert werden. Viele Regionalparteien sind auch verärgert, dass Modi Dienstleistungen des Staates vermarktet, als wenn sie seine persönlichen Geschenke wären. So bestand die BJP in Telangana darauf, dass staatliche Sozialleistungen mit dem Bild des Premierministers verteilt wurden. Dieses Branding hat der BJP-Chef so sehr perfektioniert, dass sein Konterfei heute omnipräsent ist in Indien.
Die BJP sollte ihren Kurs anpassen
Die BJP ist sich bewusst, dass sie im Süden ein grundsätzliches Problem hat. Wie sie darauf reagiert, dürfte entscheidend sein für den Erfolg der Partei, aber auch für die Zukunft des Landes. Grundsätzlich sind zwei gegensätzliche Strategien der BJP zu erkennen: Die erste Strategie besteht darin, auf ihrem Kurs zu beharren und zu versuchen, die Opposition mit fragwürdigen Mitteln zu spalten und zu schwächen. Die zweite Strategie ist es dagegen, die eigene Politik anzupassen, um die Wählerinnen und Wähler in Südindien besser anzusprechen.
Der erste Weg ist gefährlich. Denn Indien kann nur vorankommen, wenn die Regierung in Delhi mit den Teilstaaten zusammenarbeitet – und das unabhängig davon, welche Partei dort an der Macht ist. Auch sollte es die Regierungspartei im Interesse der Demokratie und des Föderalismus vermeiden, die Grenzen der Wahlkreise zu ihrem eigenen Vorteil zu ziehen, Steuergelder nach politischen Gesichtspunkten zu vergeben und die Justiz gegen die eigenen Gegner einzusetzen.
Einiges deutet zum Glück darauf hin, dass die BJP vermehrt den zweiten Weg geht. So hat Modi seinen Respekt für die sprachliche Vielfalt Indiens bekundet. Auch hat seine Partei ihren aggressiven Hindu-Nationalismus im Süden gemässigt. Insbesondere hat die BJP im Wahlkampf darauf verzichtet, den Ram-Tempel in Ayodhya in den Fokus zu stellen. Der kürzlich eingeweihte Tempel polarisiert, weil er auf den Ruinen einer von Hindus zerstörten Moschee erbaut worden ist.
Die BJP hat offenbar erkannt, dass sie mit ihrer ideologischen Politik in Südindien nicht weit kommt. Statt auf religiöse Polarisierung setzt sie verstärkt auf wirtschaftliche Entwicklung. Dies wäre auch dem Rest des Landes zu wünschen, wenn Modi im Juni eine dritte Amtszeit antritt. Denn das Modell Südindiens zeigt: Religiöse Toleranz, politischer Pluralismus und die Achtung der grossen kulturellen und sprachlichen Vielfalt des Landes sind kein Hindernis für die soziale Entwicklung und das Wachstum der Wirtschaft – im Gegenteil.