Ohne den Drang nach Höchstleistungen gibt es keinen Fortschritt. Aber Perfektionismus hat auch Schattenseiten. Ein Perspektivwechsel hilft, sich endlich gut genug zu fühlen.
Als junges Mädchen wollte Christine Altstötter-Gleich Ballerina werden. Ihre Ballettlehrerin prophezeite ihr eine Durchschnittskarriere. Ein Schock, denn das reichte ihr nicht. Altstötter-Gleich ist Perfektionistin, Tanzen war keine Option mehr. Immerhin war das enttäuschende Urteil später der Wegweiser für ihre berufliche Karriere.
Sie studierte klinische Psychologie, wollte verstehen, woher strenge Massstäbe und hohe Erwartungen an sich selbst kommen. Heute ist die 66-Jährige eine der bekanntesten Wissenschafterinnen auf diesem Forschungsgebiet: Altstötter-Gleich forschte fast vierzig Jahre, war bis zu ihrem Ruhestand 2024 Dozentin für Persönlichkeitspsychologie an der Technischen Universität Kaiserslautern-Landau.
Ohne Perfektionismus kein Fortschritt
Perfektionismus habe viele positive Aspekte, sagt die Wissenschafterin. Schliesslich würden Menschen mit diesem Persönlichkeitsmerkmal gesellschaftlich bewundert: für höchste Ansprüche, aussergewöhnliche Leistungen. «Wir verdanken Perfektionisten viel, unter anderem den technischen Fortschritt.» Am Anfang stehe die Vision, etwas Vollkommenes zu erschaffen. Altstötter-Gleich nennt die Arbeit von exzellenten Ingenieuren oder Chirurgen. «Sie dürfen keine Fehler machen, denn das könnte lebensgefährliche Folgen haben.» Das ist die funktionale Seite des Perfektionismus.
Ein bisschen Perfektionismus trägt ein jeder in sich. Auch die dysfunktionale Seite, für die Altstötter-Gleich auf einen Selbsttest verweist. Wie oft lese man etwa eine Whatsapp-Nachricht durch, ehe man sie abschicke? Zweimal? Fünfzigmal? «Treibt einen die Angst vor Tippfehlern oder grammatikalischen Fehlern um?» Für die meisten Menschen geht die Welt wegen eines fehlenden Kommas nicht unter, für einen Perfektionisten könne sich das so anfühlen. Und sie sagt: «Der Fokus eines Perfektionisten liegt nicht auf der Gegenwart, sondern auf zwei Szenarien in der Zukunft: Erfolg – oder Scheitern.»
Diese Fixierung führe zu Stress, Selbstblockaden oder Vermeidungsstrategien. Auch das ist die dysfunktionale Seite des Perfektionismus. Noch grösser als die Angst vor dem Scheitern sei der unbedingte Wille nach Anerkennung. «Im Gegensatz zu anderen Menschen knüpft ein Perfektionist seine Leistung eng an den Selbstwert. Er verzeiht sich keine Fehler», erklärt die Forscherin.
Die Schattenseite: unerreichbare Ziele
Anruf bei dem kanadischen Psychologieprofessor Paul L. Hewitt. Er stiess als Student zufällig auf das Thema, wurde von Kommilitonen für das Interesse am weichen Forschungsgebiet belächelt. Heute gilt der 67-Jährige als einer der führenden Perfektionismusexperten, ist Dozent am Perfectionism and Psychopathology Laboratory an der University of British Columbia und arbeitet zudem als niedergelassener Psychologe in eigener Praxis.
«Perfektionismus ist die Reaktion auf ein zutiefst defizitäres Denken», lautet seine Kernthese. In Studien und Klientengesprächen erlebte Hewitt oft Betroffene, deren innerer Schmerz zu spüren war. «Viele haben früh im Leben verstanden, dass ihre Eltern sie nur lieben oder sie in der Schule nicht mehr gehänselt werden, wenn sie alles richtig machen.» Nicht nur eine strenge Erziehung – von selbst perfektionistischen Eltern – kann Auslöser sein. Perfektionismus kann auch die Reaktion auf ein chaotisches Umfeld und nichtperfektionistische Eltern sein, um Selbstkontrolle zu gewinnen. «Perfektionismus wird der Schutzschild dieser Menschen. Sie verbringen ihr ganzes Leben damit, ein unerreichbares Ziel zu verfolgen», führt der Experte fort. Insgeheim sehnen sie sich nach Anerkennung und Wertschätzung. Dem Gefühl, gut genug zu sein.
Wie Kinder genau das verinnerlichen, erforschte Anfang der fünfziger Jahre der englische Kinderarzt und Psychotherapeut Donald Winnicott. Seinen Erziehungsansatz nannte er «good enough parenting». So soll es Kinder bestärken, wenn die Mutter gelassen mit eigenen Schwächen – Müdigkeit, Wut oder Vergesslichkeit – umgehe. Dadurch entwickelt sich Frustrationstoleranz, und ein Kind lernt, dass auch eigenes Versagen okay ist. Trotz seiner Unvollkommenheit fühlt es sich geliebt – die Grundlage für einen gesunden Selbstwert.
Perfektionismus kann also positive und negative Auswirkungen haben, und er besitzt drei Ausprägungen. Um das zu veranschaulichen, präsentierte Paul L. Hewitt 1991 mit seinem Forschungskollegen Gordon L. Flett die «multidimensionale Perfektionismus-Skala». Dazu gehört auch ein Fragebogen mit Glaubenssätzen wie «Ich bin nur gut genug, wenn alles perfekt ist»: «Das ist der selbstgerichtete Perfektionismus, bei dem sich alles darum dreht, sich selbst zu perfektionieren», erklärt Hewitt. «Als Zweites gibt es den aussengerichteten Perfektionismus. Betroffene stellen hohe und oft unrealistische Ansprüche an ihre Mitmenschen: die Kinder, den Partner, Arbeitskollegen. Das belastet Beziehungen.» Als dritte Ausprägung nennt Hewitt den sozialen Perfektionismus. «Man denkt, dass von einem Perfektion erwartet werde, gesellschaftlich oder im engen Umfeld. Oft halten Betroffene krampfhaft eine Fassade aufrecht, aus Angst, dass man ihr wahres Ich erkennt.»
Verbindungen mit psychischen Erkrankungen
Durch die konsumgetriebene Gesellschaft und die Sucht nach Selbstoptimierung wird der dysfunktionale Perfektionismus in seinen verschiedenen Ausprägungen verstärkt – und damit die gesundheitlichen Folgen. «Wir wissen aus Studien aus Kanada, den USA und Grossbritannien, aber auch aus unserer Forschung, dass die mit Perfektionismus verbundenen Probleme weltweit zunehmen. Ständig bekommen wir Dinge zu sehen, die uns angeblich noch schöner, beliebter und erfolgreicher machen», kritisiert Hewitt.
Perfektionismus sei selbst keine Krankheit, betont er. Aber er verweist auf Studien, die Verbindungen mit Erkrankungen wie Essstörungen (Bulimie, Magersucht), mit Narzissmus, Depressionen, Zwangs- und Angststörungen und sogar Suizidgefährdung belegen. Auch der Zusammenhang zwischen Perfektionismus und Burnout ist erforscht. «Betroffene schotten sich bei Misserfolgen ab, haben kein erfülltes Sexualleben mehr, begegnen anderen oder sich selbst gegenüber feindselig», meint Hewitt warnend. In der Regel helfe bei stark ausgeprägtem dysfunktionalem Perfektionismus nur eine Psychotherapie.
Hinter vielen der von Hewitt genannten Studien steckt der britische Psychologe Thomas Curran. Auch er ist Perfektionismusforscher und sieht eine dramatische Entwicklung – und zwar für alle Menschen. In seinem Buch «Nie gut genug: Die fatalen Folgen des Perfektionismus» warnt Curran vor den sozialen Netzwerken als Falle: «Werden wir jemals Zufriedenheit erlangen, während wir auf Likes hoffen, Inhalte und Kommentare teilen?» Zusätzlich gebe es eine gesellschaftliche Obsession für erfolgreiche Prominente oder Politiker, die selten Schwächen und Fehler offenbarten. Curran rät zu mehr Offline-Zeit, um dem destruktiven Strudel zu entkommen.
Die Versöhnung mit den eigenen Fehlern
Und wie schafft es ein Perfektionist, nicht so hart zu sich zu sein? Sich endlich «gut genug» zu fühlen? Thomas Curran, der sich heute als «genesener Perfektionist» bezeichnet, musste selbst an sich arbeiten. Unter anderem mit einer regelmässigen Konfrontationstherapie, um die eigene Mangelhaftigkeit zu akzeptieren. Das kann jeder nachmachen und sich zum Beispiel fragen: Was wäre so schlimm daran, ein unbearbeitetes, nicht gelungenes Selfie zu posten? Sein reales Gesicht zu zeigen? Man müsse, schreibt Curran in seinem Ratgeber, in kleinen Lektionen erkennen, dass man einer unerreichbaren Version hinterherjage – von sich und den Erwartungen anderer. Und er fragt: «Ist es das alles wirklich wert?»
Für eine entspanntere Fehlerkultur empfiehlt Christine Altstötter-Gleich Übungen zur Distanzierung. «Was würde man einer Freundin sagen, wenn sie etwas nicht erreicht?» Und: «Würde man sie weniger mögen?» Ein Perfektionist müsse lernen, dass es verschiedene Arten von Scheitern gebe. «Natürlich gibt es lebensbedrohliche und unverzeihliche Fehler», betont die Forscherin. «Aber sind die meisten nicht banal und ohne grosse Konsequenzen? Ohne, dass sich Menschen von einem abwenden?»
Auch sie ergreift bis heute gezielt Chancen, um Selbstmitgefühl zu zelebrieren. Wie die Videos, die sie von ihren Seminaren filmt. «Die schönen Rückmeldungen meiner Studierenden haben mich mit jedem Versprecher versöhnt.»