Seit zwei Jahrzehnten befasst sich der Sozialpsychologe Arie Kruglanski mit den Mechanismen von Radikalisierung. Im Interview erklärt er, wie die Hamas Gewalt instrumentalisiert und weshalb Benjamin Netanyahu ein guter Psychologe ist.
Professor Kruglanski, der Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober hat die Welt erschüttert. Wie erklären Sie als Psychologe die Geschehnisse in Nahost?
Ich sehe den Angriff vom 7. Oktober als den jüngsten Schritt im israelisch-palästinensischen Pas de deux, einem makabren Tanz, der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts anhält. Nach jahrzehntelangen Erfahrungen von Unterdrückung und Erniedrigung suchen im Grunde beide Völker die Erlösung von früheren Kränkungen – in demselben Land. Es geht dabei primär um den symbolischen Wert des Landes. Wer Souveränität über ein Land ausübt, hat das, was ich «significance» nenne – Bedeutsamkeit. Das Streben nach Bedeutsamkeit ist der grundlegende Treiber für menschliche Handlungen – und psychologisch gesehen ist Gewalt das ursprüngliche Instrument, um Bedeutsamkeit zu erreichen.
Das ist eine sehr pessimistische Sicht auf den Menschen.
Es ist eine realistische Sichtweise. Israeli wie auch Palästinenser haben sich gegenseitig gedemütigt. Und wenn man sich erst einmal in einem solchen Zustand der Demütigung befindet, erscheint Gewalt oft als einziger Ausweg. Das Problem mit Gewalt ist, dass sie die andere Seite demütigt und wiederum deren Streben nach Bedeutsamkeit weckt. So entsteht eine Gewaltspirale.
Gibt es denn einen Ausweg aus dieser Spirale der Gewalt?
Meine Arbeit mit radikalisierten Gruppen hat mir zweierlei gezeigt: Sie kämpfen so lange mit militärischen oder terroristischen Mitteln, bis sie sehen, dass dies nicht mehr funktioniert. Dann sind sie bereit für Verhandlungen. Wenn das nicht funktioniert, wählen sie wieder die Gewalt.
Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit jemand verhandelt?
Menschen sind dann zu Verhandlungen bereit, wenn sie Bedeutsamkeit empfinden. Nehmen Sie den Jom-Kippur-Krieg von 1973: Obwohl er den Krieg am Ende verlor, interpretierte der ägyptische Präsident Sadat die Tatsache, Israel existenziell bedroht zu haben, als grossen Sieg. Nur deshalb war er bereit, nach Israel zu gehen und Frieden zu schmieden. Wer sich in einer Position der Stärke fühlt, will verhandeln. Wer sich völlig erniedrigt und geschwächt fühlt, sieht Gewalt als einziges Mittel.
Die Hamas steht mit dem Rücken zur Wand und ist stark geschwächt. Wird sie also weiter auf Gewalt setzen?
Die Situation der Hamas ist komplex. Einerseits wird die Hamas durch Israel systematisch zerstört. Andererseits wendet sich die Weltöffentlichkeit zunehmend gegen Israel. Das ist für die Hamas ein grosser Sieg, der ihr Bedeutsamkeit verleiht. Beides zusammen könnte einen Wendepunkt einläuten, an dem die Palästinenser zu Kompromissen bereit sein könnten.
Würden Sie sagen, dass auch in der israelischen Gesellschaft eine Radikalisierung stattgefunden hat?
In der israelischen Gesellschaft gibt es sicherlich ein Element der Radikalisierung. Der Konflikt und die anhaltende Gewalt haben die Vorstellung gestärkt, dass die andere Seite nur die Gewalt wählt. Und dann erscheint Gegengewalt als der einzige Weg. Derzeit fühlen sich die extremistischen Strömungen im Aufwind. Gleichzeitig ist ein grosser Teil der Bevölkerung stark desillusioniert von der Regierung. Die israelische Gesellschaft ist deshalb stark polarisiert.
Ab welchem Punkt sprechen Sie von der Radikalisierung einer Bevölkerungsgruppe?
Radikalisierung geschieht, wenn ein Anliegen so dominant wird, dass es alles andere verdrängt, und alle Mittel im Dienste dieses Ziels legitim erscheinen – inklusive Gewalt, Folter und Brutalität. Die Antwort der USA auf 9/11 ist ein Beispiel dafür. Wir haben uns als Spezies so entwickelt, dass wir Gewalt als den primitiven Weg zu Dominanz und folglich zu Bedeutsamkeit sehen. Die Hamas und andere terroristische Organisationen machen sich diese Anziehungskraft der Gewalt zunutze.
Der internationale Druck auf Israel ist derzeit massiv. Denken Sie, dass das zu einem Ende der Gewalt führen wird?
Im Moment überwiegt bei den Israeli noch immer der Wunsch, die Hamas zu besiegen. Sie fühlen sich immer noch erniedrigt. Die Hamas ist nicht zerschlagen, die Stimmung dreht sich gegen Israel. Die Bevölkerung ist noch nicht bereit für ein Ende des Krieges.
Aus westlicher Sicht wirkt die Haltung vieler Israeli radikal – sie scheinen kein Mitgefühl für das Leid der palästinensischen Zivilisten zu verspüren, sie stellen sich gegen humanitäre Hilfe. Wie erklären Sie sich das?
Nach dem Angriff vom 7. Oktober wurde der Sieg über die Hamas zum ultimativen Ziel, nichts anderes zählte mehr. Die menschliche Psyche ist in solchen Fällen in der Lage, andere Empfindungen im Interesse dieses dominanten Anliegens zu unterdrücken. Gleichzeitig bin ich überzeugt, dass immer mehr Israeli realisieren, dass Aggression nicht zum Ziel führt.
In Ihrem Konzept von Radikalisierung spielen Narrative eine zentrale Rolle. Gerade im Nahostkonflikt treffen völlig unvereinbare Erzählungen aufeinander. Wie werden diese eingesetzt?
Leute wie Benjamin Netanyahu oder Donald Trump, aber auch die Anführer der Hamas, sind sehr gute, intuitive Psychologen. Sie erkennen das Bedürfnis der Unterdrückten nach Bedeutsamkeit und versprechen ihnen, sie in goldene Zeiten zu führen. Netanyahu war schon immer sehr geschickt darin, jene Teile der israelischen Bevölkerung anzusprechen, die sich zurückgelassen fühlen. Er hat sie überzeugt, dass ein expansiver Nationalismus der einzige Weg zu Bedeutsamkeit ist. Es dürfte schwierig werden, diese Tendenz umzukehren und alternative Wege aufzuzeigen. Die israelische Linke ist damit kläglich gescheitert, obwohl sie sich als Beschützerin der Unterdrückten sieht.
Der Krieg in Nahost hat Auswirkungen weit über die Region hinaus. Weltweit gibt es Proteste, Fälle von Antisemitismus häufen sich. Sehen wir gerade eine Radikalisierung auf internationaler Ebene?
Absolut. Gerade junge Menschen scheinen durch die Identifizierung mit den Palästinensern ihre Bedeutsamkeit bekräftigen zu wollen. Eine unserer Umfragen in den USA hat gezeigt: Je stärker eine Person nach Bedeutsamkeit strebt, desto eher fühlt sie sich den Palästinensern verbunden, desto grösser ist ihre Kritik an Israel. Es gibt ihnen das Gefühl, gut und bedeutsam zu sein. Eine Umfrage in Israel zeigte das Gegenteil: Je stärker die Menschen sich verletzt und gedemütigt fühlen, desto eher befürworten sie die Gewalt und den Krieg. Für viele Juden ist das Gefühl einer ständigen Bedrohung sehr präsent. Sie sehen die Bedeutsamkeit Israels und des Judentums gefährdet und reagieren entsprechend.
Netanyahu spricht davon, dass nach dem Krieg in Gaza eine Deradikalisierung stattfinden muss. Wie könnte eine solche gelingen?
Zwei Dinge müssen geschehen: Erstens müssen die Palästinenser verstehen, dass sich die Gewalt letztlich nicht auszahlt und sie ihnen keine Bedeutsamkeit verleiht. Zweitens muss ihnen eine Alternative im Streben nach Bedeutsamkeit aufgezeigt werden. Wenn am Ende nur eine demütigende Niederlage steht, wird die Gewalt weitergehen. Es wird deshalb wichtig sein, dass sich die Palästinenser wertgeschätzt und respektiert fühlen.
Ein positives Beispiel ist das, was nach der Niederlage von Nazi-Deutschland passiert ist. Es hätte eine totale Demütigung sein können, hätte es den Marshall-Plan nicht gegeben. Die USA zeigten Grossherzigkeit, so dass sich die Bevölkerung in Deutschland von den Siegermächten nicht erniedrigt, sondern respektiert fühlte. Es wird deshalb meines Erachtens zentral sein, das Verlangen des palästinensischen Volkes nach Staatlichkeit anzuerkennen.
Professor Arie W. Kruglanski
Der Psychologe Arie W. Kruglanski ist Professor für Sozialpsychologie an der University of Maryland. Er verbrachte seine Jugend in Israel, wo er auch Militärdienst leistete, bevor er zum Studium nach Kanada und später in die USA zog. Seit dem Terroranschlag am 11. September 2001 in den USA untersucht er die psychologischen Mechanismen der Radikalisierung. Kruglanski ist Mitautor des 2019 im Verlag der Universität Oxford erschienenen Buches «The Three Pillars of Radicalization – Needs, Narratives, and Networks».