Solarstrom, grüner Wasserstoff, Bioabfälle und Altspeiseöl: Der Chef des Raffinerie-Betreibers Varo Energy sieht eine Vielzahl von Optionen.
Die Gefahr lauert überall. In der Energiebranche wird nicht unterschieden, ob es eine Förderplattform, eine Raffinerie oder ein Bürogebäude ist. So heisst es: Die Hände gehören an den Handlauf. Auch das in Baar angesiedelte Unternehmen Varo Energy ist strikt. In den lichtdurchfluteten Büros wird auf Sicherheit geachtet: Besucher erhalten eine kurze Einweisung, wie sie sich im Falle eines Notfalles zu verhalten haben oder wie sicheres Treppensteigen aussieht.
Varo unterhält nicht nur neue Büroräume, die an manchen Stellen an Wohlfühloasen erinnern. Das ausserhalb der Branche wenig bekannte Unternehmen ist auch der Betreiber der einzigen Erdölraffinerie in der Schweiz in Cressier. Sie deckt bis zu 30 Prozent des heimischen Erdölbedarfs. Zudem hält Varo die Mehrheit an der Raffinerie Bayernoil und versorgt dabei Deutschland mit rund 10 Prozent des Gesamtkonsums.
Bestehende Infrastruktur umfunktionieren
Die Wurzeln von Varo liegen in der Herstellung und im Vertrieb fossiler Treibstoffe. Hinter Varo stehen die Private-Equity-Gesellschaft Carlyle Group und Vitol, der grösste unabhängige Erdölhändler der Welt. Das Unternehmen unter seinem Chef Dev Sanyal hat sich ehrgeizige Klimaziele gesetzt: Bis zum Jahr 2040 will Varo das Netto-Null-Ziel erreichen. Das heisst, dass nicht nur die Emissionen, die das Unternehmen direkt bei der Produktion ausstösst, auf netto null fallen sollen, sondern auch die Emissionen der Produkte selbst.
Das bedeutet nicht weniger, als dass sich Varo und auch die Raffinerie in Cressier neu erfinden müssen. «Wir können unsere bestehende Infrastruktur umfunktionieren», sagt Sanyal im Gespräch. Er hat vor zwei Jahren die Stelle angetreten, um die Energiewende des Unternehmens voranzutreiben. Vor seinem Wechsel in die Schweiz hatte der indischstämmige Sanyal beim britischen Energieriesen BP die Verantwortung für den Bereich der erneuerbaren Energien und auch für Erdgas.
Wie soll nun Cressier im Jahr 2040 aussehen? «Wir arbeiten derzeit an mehr als 10 Projekten zur Dekarbonisierung der Produktionsprozesse», sagt Sanyal. Zunächst sollen die CO2-Emissionen beim Betrieb der Raffinerie bereits bis 2030 deutlich reduziert werden. Zudem wird auch mit der Mitverwertung der Abfälle begonnen, die zu Biodiesel gemischt werden sollen.
Solarstrom für Cressier
Einen ersten grösseren Schritt in Richtung weniger Emissionen hat das Unternehmen mit der leistungsstärksten Freiflächensolaranlage der Schweiz unternommen. Sie wurde im vergangenen Jahr in Betrieb genommen und soll zu Spitzenzeiten bis zu 60 Prozent des Strombedarfs von Cressier liefern.
Die Raffinerie im Kanton Neuenburg ist auch der grösste Wasserstoffkonsument des Landes, der Anteil beträgt 70 Prozent. Derzeit wird der für die Produktionsprozesse notwendige Wasserstoff noch mit Erdgas erzeugt. Es wird aber daran gearbeitet, mehr Wasserstoff in der Raffinerie zu gewinnen.
Die weiteren Optionen für CO2-freien Wasserstoff sind zahlreich, aber noch wenig konkret und reichen von einer Produktion von grünem Wasserstoff in der Schweiz bis hin zum Import über Pipelines oder die Häfen am Rhein. In Birsfelden hat Varo derzeit zwei Tanklager für Erdölprodukte. Seit einiger Zeit gibt es bereits hochfliegende Pläne für einen Wasserstoff-Hub am Rhein, an denen sich Varo beteiligt.
Klarer sind die Wasserstoff-Vorhaben für Bayernoil. Um den Bedarf für die deutsche Raffinerie zu decken, soll eine Wasserstoffanlage mit einer Kapazität von 125 Megawatt aufgebaut werden, der Strom dazu soll vor allem auf Windkraft beruhen. Die Energie wird zugekauft. Dadurch soll der noch mit Erdgas erzeugte Wasserstoff durch grünen ersetzt werden.
Bereits werden Pläne gewälzt, die Kapazität auf 700 Megawatt auszubauen. Es könnte zudem eine weitere Wasserstoff-Produktion im «Nordwesten Europas» für eine bestehende Anlage hinzukommen. Damit dürften die Niederlande gemeint sein.
Sanyal lässt aber keinen Zweifel daran, dass Investitionen dann getätigt werden, wenn das regulatorische Umfeld, aber auch die Förderungen stimmen. In der Schweiz will der Bundesrat bis Ende des Jahres seine Wasserstoff-Strategie präsentieren. Deutschland und die EU sind in dieser Hinsicht schon weiter.
Varo läuft auf zwei Motoren
Die Frage ist aber nicht nur, wie die Raffinerien der Zukunft produzieren, sondern auch, was sie herstellen. Die Grundlage für Investitionsentscheidungen sind die entsprechenden Regulierungen und die Kundennachfrage. Derzeit befindet sich noch einiges im Fluss. «Die Energiewende ist kein linearer Prozess», sagt Sanyal.
Varo spricht von «zwei Motoren» für das Unternehmen: Der erste Motor ist das traditionelle fossile Geschäft, in dem weiterhin der Grossteil der Erträge anfällt. Ein Drittel der Investitionen fällt derzeit noch in diesem Bereich an. Die Raffinerien müssen erhalten werden, die Dekarbonisierung der Prozesse kostet ebenfalls.
Die Mehrheit der Investitionen tätigt das Unternehmen aus Baar jedoch für den «zweiten Motor», für das Geschäft der Zukunft: Biotreibstoffe, Biogas, Wasserstoff, E-Mobilität und CO2-Zertifikate aufgrund von Technologien zur Entnahme von Kohlenstoff.
Der Ansatz sei pragmatisch, sagt Sanyal. Das heisst: Das Unternehmen, das weltweit mehr als 2100 Beschäftigte hat, macht das, was es kann, es konzentriert sich auf die Mobilität, die nicht so schnell elektrifiziert werden kann, und es werden bestehende Anlagen grösstenteils «umfunktioniert». Dabei gibt sich Varo aber nicht mit Kleininvestitionen ab. Denn Grösse bedeutet Effizienz und Kostenvorteile.
Das Projekt in Rotterdam ist ganz nach dem Geschmack von Sanyal: Varo investiert 600 Millionen Dollar in eine Anlage zur Produktion nachhaltiger Treibstoffe für Flugzeuge, von sogenanntem Sustainable Aviation Fuel (SAF). Die Anlage, die aus altem Speiseöl und ähnlichen Grundlagen Treibstoff produziert, entsteht auf einem Raffineriegelände in der niederländischen Hafenstadt und soll bis zu 7 Prozent des EU-Ziels für SAF im Jahr 2030 abdecken.
An der Grenze zwischen Deutschland und den Niederlanden entsteht zudem eine grosse Produktionsanlage für Biogas, das mit Hilfe von Bioabfällen hergestellt wird. Biogas wird in Bereichen eingesetzt, die schwer elektrifiziert werden können, wie bei Schwerlastfahrzeugen und in der Schifffahrt. Ein Problem der Branche ist es, ausreichend Rohstoffe für die Bioproduktionen zu bekommen. Varo sieht sich im Vorteil, weil es auch ein grosser Händler für Öle und Bioabfälle ist.
Kundenfreundlich statt zweckmässig
Über die Jahrzehnte hat Varo ein System aufgebaut, das durchoptimiert Treibstoffe auf fossiler Basis herstellt. Wenn nun in der Raffinerie Cressier vermehrt bis ausschliesslich Biostoffe produziert werden sollen, verändert sich aber nicht nur der Grundstoff, sondern auch die Art des Geschäfts. Es reicht nicht mehr, effizient Benzin, Diesel oder Kerosin herzustellen, wobei es für den Kunden letztlich egal ist, wer der Produzent ist, Hauptsache, die Treibstoffe sind billig.
In der neuen Welt muss ein Unternehmen wie Varo verstärkt auf Kundenwünsche und die Politik und ihre Art der Dekarbonisierung eingehen. Weil die Energiewende kein geradliniger Weg ist, heisst dies auch, dass unmittelbarer mit Kunden wie Lufthansa oder der Logistikfirma DHL umgegangen werden muss. Früher reichte noch ein Hauptsitz in Cham, der den diskreten Charme der Zweckmässigkeit verströmte. Jetzt braucht es repräsentable, helle Büros mit Mission-Statements an den Wänden – um Kunden und Mitarbeiter anzulocken.