Schon lange wird weltweit intensiv aus der Ukraine berichtet und über die Ukraine diskutiert. Man weiss darum, was seit 1991 passierte und was nicht. Dennoch halten sich hartnäckig Irrtümer und Vorurteile, die auch von der russischen Propaganda genährt sind.
Die Ukraine wird seit drei Jahren zerstört, mitsamt Menschen, Städten, Ressourcen, Meeren, Flüssen, Böden und Tieren – aber es ist, wie es ist. Neue schreckliche Videos von Bombentreffern in Poltawa, Charkiw und Saporischja finden im Ausland kaum noch Widerhall. Die Leute sind all dessen überdrüssig, und die Ukraine ist nicht mehr so interessant. Sie ist irgendwo weit weg. Und in der Ukraine gebe es Diktatur, Korruption, Faschismus, Bürgerkrieg und Menschenrechtsverletzungen, behaupten nicht wenige. Und: dass der Krieg auf die eine oder andere Weise beendet werden müsse, denn er koste zu viel.
Durch Schock, Herzschmerz und Anteilnahme bewegt sich die internationale Gemeinschaft mehr und mehr auf den Geisteszustand zu, den der russische Dichter Alexander Puschkin einst so beschrieb:
«Welche niederträchtige Perfidie
ihm seine Kissen zurechtzulegen,
ihm traurig seine Medizin zu verabreichen,
zu seufzen – und innerlich zu denken:
Wann wird dich der Teufel holen?»
Der Wert eines Menschenlebens
1. Die Ukraine liegt nicht weit weg von Europa, und das aus vielen Gründen. «Nam tua res agitur, paries cum proximus ardet», schrieb Horaz – «auch du schwebst in Gefahr, wenn das Haus deines Nachbarn brennt». Nun ist das brennende Haus nicht nur geografisch, sondern auch ideell nah: Der Krieg der Ukrainer gegen die Russen ist ein Kampf um Freiheit, Würde und die Grundsätze der Zivilisation. Wenn die Ukraine Putin besiegt, wird sich die Hälfte der Terroristen auf der ganzen Welt in ihre Sandgruben verkriechen und dort verrotten. Oder vielleicht sogar zwei Drittel. Und dann werden alle erkennen, dass die Ukraine niemals weit weg war.
2. Es kann aber auch anders kommen. Derzeit sieht es so aus, dass Donald Trump die Ukraine im Stich lässt, indem er mit Putin von Grossmacht zu Grossmacht über unsere Köpfe hinweg einen «Deal» aushandelt. In diesem Fall wird die Ukraine zu einem zweiten Afghanistan, Trumps Afghanistan, und die Terroristen der Welt werden aus ihren tiefen Löchern nur so hervorquellen. Es war die schreckliche Schande von Bidens kopflosem Abzug aus Afghanistan, dass er allen signalisierte, dass Aggression gegen die westliche Welt ungestraft bleiben kann. Nach einem weiteren Afghanistan wird das Schwungrad des dritten Weltkriegs noch viel lauter sirren. Das ist ein weiterer Grund, warum die Ukraine gar nicht so weit weg ist.
3. Das wird Trump sicher nicht tun, dachten viele. Er werde sich etwas Vernünftigeres und Rationaleres einfallen lassen. Aber leider hat Trumps russisches Roulette nicht nur Folgen für die Ukraine, sondern für den ganzen Planeten. Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass der Revolver nicht echt ist und nach dem Abdrücken statt einer Kugel eine Fahne mit der Aufschrift «Bang!» oder ein Strauss Plastikblumen aus dem Lauf schiesst und dann alle glücklich sind. Aber diese Chance ist nicht gross. Ich wünschte, ich würde mich irren.
4. Auch wenn die Ukraine weit weg ist, bedeutet das nicht, dass 100 000 zusätzliche Kriegsgefallene dort weniger wiegen als 100 000 britische, deutsche oder französische Tote. Alle Menschen sind gleich viel wert, auch wenn es mitunter den Anschein hat, dass dem nicht so ist, und der Wert eines einzelnen Menschenlebens ist unendlich gross. Die Unendlichen leben in den Häusern nebenan und gehen auf denselben Strassen wie wir. Sie sind gleichermassen unendlich in Spanien, in den USA und in Côte d’Ivoire. Wie auch in der Ukraine.
Alle zwei oder drei Wochen sendet mir Facebook mit makabrer Hartnäckigkeit dieselbe Freundschaftsanfrage: von Sofia Glinjanaja. Das ist ein dreizehnjähriges Mädchen, das mit den Eltern nach Charkiw zog, weil diese dachten, dass es hier sicherer sei. Eines Tages wurde ihr, als sie auf einer Parkbank sass, von einer russischen Granate der Kopf abgerissen. Auf ihrer Facebook-Seite gibt es nur einen Eintrag von vor zwei Jahren: Wer ist dein Lavendel? Ein Lavendel ist jemand, den du kennengelernt hast und mit dem du dich sofort verstanden hast. Sie sind die süssesten und aufrichtigsten Menschen, die einem je über den Weg gelaufen sind.
Das ist ein ganz normaler Beitrag eines Mädchens, das vor nicht allzu langer Zeit noch an Feen und Einhörner geglaubt haben dürfte und das sich darauf freute, den süssesten und echtesten Menschen zu begegnen. Jemand möge bitte Herrn Zuckerberg mitteilen, dass er keine toten Kinder mehr als Freunde anbieten solle.
Den Kopf hinhalten
5. In Europa denken viele, dass Russland russischsprachige Menschen in der Ukraine schütze. – Ja, es schützt sie, indem es sie tötet.
6. Europäer sind höfliche Menschen, und wenn sie mit Ukrainern sprechen, lächeln sie normalerweise und sagen freundliche Worte. Später, wenn sie unter sich sind, klingt es wahrscheinlich anders. «Es gibt bei uns zu viele von ihnen, sie wollen nicht arbeiten. Sie wollen alle alles umsonst erhalten. Sie sind so gerissen, dass sie durch jede Ritze kriechen.» So etwa klinge das, wurde mir gesagt.
Nicht alle Ukrainer sind gleich. Die Gerissenen, die das können, sind geflohen und versuchen, nachdem sie sich im europäischen Paradies wiedergefunden haben, ihr kleines Stück davon zu erhaschen. Die anderen, die von morgens bis abends den Kopf hingehalten haben, fallen weniger auf. Wer in der Ukraine geblieben ist, um den Grenzwall zwischen Zivilisation und der Wildheit zu bewahren und dafür auch das eigene Leben zu geben, ist von den guten Stuben der europäischen Städte aus überhaupt nicht zu sehen.
Wenn Geflohene aus Europa in die Ukraine zurückkehren, erscheinen sie manchmal bis zur Unkenntlichkeit verändert. Waren sie vorher laut und fröhlich, sind sie jetzt unauffällig und sprechen so leise, dass man sie kaum hören kann. Nicht jeder dürfte im Paradies der Ferne glücklich gewesen sein.
7. Womöglich aber liegen die Ukrainer, die sich der Barbarei erwehren, falsch. Sie wüten gegen alle Russen, auch gegen jene, die gegen Putin sind, und bezeichnen Russen sogar als genetische Irrläufer. «Ein guter Russe ist ein toter Russe», sagen sie. Sie teilen Videos, in denen eine Drohne einen russischen Soldaten in Stücke reisst, und gleichzeitig lachen sie fröhlich und legen ironische Musik darüber.
Nach dem letzten Angriff auf Poltawa sagte ein alter ukrainischer Mann: «Ich will, dass ganz Russland mit Putin stirbt.» Ganz Russland soll sterben? Aber das ist nicht richtig! Sogar der Papst ruft aus irgendeinem unerfindlichen Grund die Ukrainer dazu auf, «den Krieg abzulehnen und zu vergeben», obwohl es keinen Sinn ergibt, jemandem zu vergeben, der nicht aufhört, dich umzubringen. Du wirst sterben, und dem Gras auf deinem Grab ist es egal, ob du Zeit und Gnade hattest, dem Mörder zu vergeben oder nicht.
Der Punkt ist, dass der alte Mann in Poltawa gerade seine ganze Familie verloren hat: seinen Sohn und seine Schwiegertochter, 37 Jahre alt, und seine Enkelin, 9 Jahre alt. Er darf also alles sagen. Wir sind so sehr geschändet worden, dass sowohl Gott als auch der Teufel mit uns sind, und wir haben recht, auch wenn wir unrecht haben.
Die schreckliche Kraft des Krieges
8. Noch ein paar westliche Irrtümer: Es gibt einen Bürgerkrieg in der Ukraine. Die Krim wollte zu Russland gehören. Wie auch der Donbass. Hier wie dort gab es Referenden, und die Leute haben ihren Willen zum Ausdruck gebracht.
Die Referenden wurden von Putins Russland organisiert, einem Land, das noch nie eine faire Wahl oder ein Referendum abgehalten hat. Sämtliche russischen Wahlen und Volksabstimmungen waren illegal, zudem wurden und werden die Russen einer Gehirnwäsche unterzogen.
9. Auch das noch: Der Krieg in der Ukraine sei zu kostspielig. – Es mag den Anschein haben, dass eine Beendigung oder ein Einfrieren der Kämpfe wirtschaftlich von Vorteil ist. Der Krieg indes ist für Putins System die einzige Möglichkeit, zu existieren. Wird der Krieg in einer Richtung gestoppt, wird er sich in eine andere Richtung fortsetzen. Mehr als eine Million Männer, die nichts anderes können, als für Geld zu töten, sind eine schreckliche Kraft, die nicht ruhen wird, egal, wie sehr man sie ruhigzustellen versucht. Der aufgeschobene Krieg wird sich auf dem Planeten ausbreiten wie Schimmel auf einem faulenden Pfirsich, und die Remedur wird mit jedem Tag teurer werden. Der ein Messer schwingende Irre, der nicht bestraft wurde, wird mit Sicherheit mit einer Axt oder einer Kettensäge zurückkommen.
10. Eine weitere kursierende Meinung: Es gebe ein paar mikroskopisch kleine nordkoreanische Truppen, die in der Ukraine kämpften, aber das mache keinen Unterschied. – Aber das stimmt nicht: Es ist ein Riesenunterschied! Die Nordkoreaner kämpfen nicht für Russland; sie trainieren für einen Angriffskrieg mit ihrer Millionenarmee.
11. Die Ukraine sei eine Diktatur, bekommt man seit kurzem zu hören, weil Selenski keine Wahlen abhalte. – Ja, Selenski hält keine Wahlen ab, aber nicht, weil er Angst hat, die Macht zu verlieren, sondern weil Krieg herrscht. Das Feld der Wahlen ist in der Ukraine seit mehreren Jahrzehnten nicht nur abgemäht, sondern mit Beton ausgegossen, auf dem fein säuberlich angeordnet staubige Wahlkakteen in Töpfen stehen. Das Volk hat Selenski gewählt, weil er ein Wahlkraut ist.
Selenski hat viele Fehler, und er hat viele Fehler gemacht: diktatorische Tendenzen, absolute Kritik-Unempfindlichkeit, Inkompetenz, verfehlte Personalpolitik, die Angewohnheit, das Volk zu belügen, und sogar Missachtung des Gesetzes. Aber als Kraut ist er immer noch besser als alle anderen, und er wird noch einmal gewählt werden, wenn im Jahr 2025 Wahlen stattfinden. Es sei denn, die internationale Gemeinschaft pflanzt einige völlig unerwartete Stecklinge in unser Feld – aber dann wird es keine Demokratie mehr sein.
Ausserdem ist es sinnlos, Wahlen abzuhalten, weil Männer unter sechzig nicht daran teilnehmen werden: Die Hälfte von ihnen steht an der Front, und der Rest wird nicht auftauchen in der plausiblen Annahme, dass sie direkt vom Wahllokal in den Schützengraben geschickt werden könnten.
Ein Graben voller Krokodile
12. Ein ewiges Vorurteil lautet: Die Ukraine ist voller Nazis. Es gibt die Asow-Brigade, den Bandera-Kult, die Verbrennung russischsprachiger Bücher, Fackelzüge und so weiter.
Beide Maidan-Revolutionen richteten sich in erster Linie gegen die Korruption und erst danach gegen Russland. Aber das ukrainische System der Korruption war schon immer eine schlechte Kopie des russischen, so dass die Regierung, die nicht willens oder in der Lage war, gegen Korruption vorzugehen, als Ersatzhandlung die russische Sprache zu bekämpfen begann. Je glühender jemand Nationalist war, desto leichter wurde ihm sein Versagen bei der Korruptionsbekämpfung verziehen. Dabei gibt es in der Ukraine nicht mehr radikale Nationalisten als in anderen Ländern, es handelt sich um eine kleine Minderheit.
Nationalismus und Nazismus sind nicht dasselbe. Der Nationalsozialismus sieht sich im absoluten moralischen Recht und betrachtet es als die Pflicht der Nation, andere Nationen zu vernichten. Die Ukraine wird nur von einer Nation, ihrem nördlichen Nachbarn, gequält, und es besteht keine Notwendigkeit, diesen zu zerstören. Es reicht, Russland mit einem Graben voller Krokodile zu umschliessen oder sich etwas anderes einfallen zu lassen, damit die «grossen Brüder» nie wieder kommen, um uns zu unserem eigenen Schutz zu töten. Was angeblich ganz und gar nicht nazistisch ist.
13. Und noch mehr: In der Ukraine gebe es Faschismus. – Faschismus und Nazismus sind nicht dasselbe. Der Faschismus kann sehr wohl ohne jede Erwähnung der Nation auskommen. Um ein faschistisches Regime zu errichten, genügt es, das Volk zu verachten, ihm einen Führer zu geben, der keine moralischen Grenzen kennt, der jenseits von Gut und Böse steht, der absolute Macht hat, zu belohnen wie zu bestrafen, jemanden zum Feind zu erklären und ihn zu vernichten.
In der Ukraine gibt es so etwas nicht. Aber in Putins Russland blüht und gedeiht das alles.
14. Was in der Ukraine geschehe, sei ein grosser, langer, aber immer noch lokaler Krieg, meinen viele. – Aber leider ist dies ein Krieg, der das System der Welt als solches dauerhaft verändert. Ein Krieg zugunsten einer Welt, in der Diktatoren herrschen und die verbliebenen Demokratien mucksmäuschenstill dasitzen und den Kopf nicht heben. Ein Krieg für eine Welt, in der es für mich keinen Platz gibt. Und auch für dich nicht.
Sergei Gerasimow lebt als Schriftsteller in der Grossstadt Charkiw, die nach wie vor von den Russen beschossen wird. – Aus dem Englischen von A. Bn.