Wer den neuen Tarif weiter verzögert, schadet den Hausärzten: Das sagt Monika Reber, die Präsidentin der Haus- und Kinderärzte. Den Spitälern wirft sie vor, dass sie ihre Einnahmen würden erhöhen wollen – zulasten der Grundversorgung.
Frau Reber, in Ihrer Praxis hängt ein Plakat, auf dem steht: «Wollen Sie auch morgen noch eine Hausärztin?» Sie suggerieren also Ihren Patienten, dass sie bald vor einer geschlossenen Praxis stehen. Warum diese Panikmache?
Das ist keine Panikmache. Wir erstellen zu diesem Thema seit dem Jahr 2010 fortlaufende Studien und sehen, dass die Zahl der Haus- und Kinderärzte rapide abnimmt. Derzeit ist jeder zweite Hausarzt über 55 Jahre alt, viele sind schon im Pensionsalter – da kann man sich leicht ausrechnen, was in zehn Jahren passieren wird. Wir warnen schon lange vor einer Unterversorgung in der Hausarztmedizin. Passiert ist politisch kaum etwas.
Ist tatsächlich zu erwarten, dass die Patienten bald keinen Hausarzt mehr finden?
Ich hoffe es natürlich nicht. Aber wenn wir keine Gegenmassnahmen ergreifen, wird das der Fall sein. Hier in Langnau haben in den letzten Jahren sechs Ärzte aufgehört. Es gibt zwar Nachwuchs, in unserer Praxis hat vor wenigen Jahren eine Kollegin neu angefangen. Aber sie arbeitet nur 60 Prozent. Vis-à-vis gibt es eine Praxis von zwei Ärztinnen, die weniger als 50 Prozent arbeiten. Zudem gibt es zwei neue Gruppenpraxen mit wechselnder Besetzung.
Der klassische Hausarzt stirbt aus . . .
. . . was verstehen Sie genau darunter?
Den alten Einzelkämpfer, der Tag und Nacht für seine Patienten da ist, jede Woche 80 Stunden arbeitet.
Ja, das mag sein, dass dieser Typus verschwindet. Wir Jungen sind nicht mehr bereit, solche unglaublich hohen Pensen zu leisten. Aber ich verstehe unter einem «klassischen Hausarzt» vielmehr jemanden, der seine Patienten über eine längere Zeit hinweg betreut und dadurch sie und ihr Umfeld genau kennt. Der für seine Patienten da ist und Verantwortung übernimmt und ein Vertrauensverhältnis aufbaut. Das machen wir weiterhin.
Aber wenn eine Ärztin nur noch 50 Prozent arbeitet, kann sie gar nicht immer da sein, wenn ihre Patienten sie brauchen.
In unserer Praxis sind wir vier Ärzte. Wenn ich nicht hier bin, sind drei andere da. Sie können die Krankenakte konsultieren und in dringenden Fällen die Behandlung übernehmen. Auch unsere medizinischen Praxisassistentinnen spielen eine immer wichtigere Rolle. Sie kennen die Patienten mit den komplexen und chronischen Krankheiten ebenfalls sehr gut.
Gleichzeitig kommt aber von Spezialärzten der Vorwurf, Hausärzte würden immer mehr Patienten sofort an sie weiterreichen, um ja «nichts Falsches zu machen».
Ich sehe einfach die Zahlen: Wir behandeln 93 Prozent der Fälle abschliessend. Als Hausärztin kann ich die Verantwortung ohnehin nie abgeben. Wenn ich einen Patienten zum Spezialisten schicke, bekomme ich zu irgendeinem Organ eine Fachmeinung. Ich muss diese Erkenntnis dann aber wieder in die Therapie integrieren und über die weitere Behandlung entscheiden. Was ich aber spüre: Der Druck von den Patienten selbst, dass ich sie an einen «Experten» überweise, nimmt zu.
Was sagen Sie einem Patienten, der solche Forderungen stellt?
Am Schluss entscheidet – je nach Versicherungsmodell – der Patient. Aber ich sage oft: «Eine solche Zusatzabklärung ergibt keinen Sinn.» Es gibt Patienten, die dann vielleicht abspringen und zu einem anderen Hausarzt wechseln. Aber denen renne ich nicht nach.
Sie bleiben immer hart?
Nein. Manchmal braucht es eine Abklärung, von der ich weiss, dass sie nichts bringt. Beispielsweise, wenn ein Patient mehrmals wegen Kopfschmerzen zu mir kommt und Panik hat, dass er an einem Hirntumor leidet. Irgendwann kann ich nicht mehr sagen: Es ist höchst unwahrscheinlich, wir warten ein paar Monate ab. Ich muss ihn dann zu einem MRI schicken. Sonst besteht das Risiko, dass die Angst vor dem Krebs ihn wirklich krank macht.
Stimme der Grundversorgung
Monika Reber
Erst seit 2010 haben die Schweizer Haus- und Kinderärzte einen eigenen Verband, um sich besser Gehör zu verschaffen, gegenüber der Politik, aber auch innerhalb der Ärzteschaft. Das Co-Präsidium teilen sich seit Mai zwei praktizierende Hausärzte: Monika Reber, die in Langnau im Emmental eine Praxis führt, sowie Sébastien Jotterand aus Aubonne.
Es herrscht offenbar grosse Verunsicherung, gerade bei Jungen: Viele gehen zum Arzt, um zu hören, dass sie nicht krank sind.
Das ist bis jetzt vor allem ein städtisches Phänomen, aber ich beobachte auf dem Land ähnliche Tendenzen. Corona hat die Unsicherheit noch verstärkt. Es hat schon vor einigen Jahren mit «Dr. Google» angefangen, aber die Social Media haben das Problem verschärft: Die Algorithmen sind so ausgestaltet, dass die Jungen immer ähnliche Inhalte zu sehen bekommen. Sie lesen dann von Influencern, die an bestimmten Krankheiten oder Symptomen leiden – und denken: Hey, das habe ich doch auch. Und dann suchen sie im Internet weiter und sehen sich bestätigt.
Was ist derzeit in Mode?
Zum Beispiel Müdigkeit. Dazu finden die Leute im Netz alles – von Krebs über einen Mangel an irgendwelchen Vitaminen bis hin zu Long Covid oder psychischen Erkrankungen.
Wie geben Sie solchen eingebildeten Kranken die Sicherheit zurück?
Wenn ich merke, dass ich sie durch meine Einschätzung und meine Erklärungen nicht beruhigen kann, frage ich: «Was sagt denn Dr. Google genau?» Dann weiss ich, auf welcher Basis ich mit ihnen diskutieren kann. Und sage ihnen, wie selten diese oder jene Krankheit ist. Ich finde es aber nicht nur schlecht, dass die Jungen sich eher getrauen, zum Arzt zu gehen.
Warum?
Angehörige früherer Generationen bekamen etwa bei psychischen Erkrankungen keine oder zu wenig Hilfe. Ich sehe bei mir in der Praxis 70-Jährige, die seit der Kindheit Probleme mit sich herumschleppen. Sie galten als schwererziehbar, wurden fremdplatziert, man sagte ihnen immer: «Du könntest doch, wenn du nur wolltest!» Heute würde man vielleicht ein ADHS diagnostizieren. Das hätte eine betroffene Person damals womöglich stark entlastet. Das darf man nicht vergessen, wenn man von «ADHS-Wahn» spricht. Es gibt heute Unterstützungsmöglichkeiten, die es früher nicht gab. Sie können Lebensläufe und Leidensgeschichten verändern.
Und was muss sich verändern, damit die Schweiz weiterhin genug Haus- und Kinderärzte hat?
Mehr Nachwuchs gibt es nur, wenn die Rahmenbedingungen der Hausarztmedizin massiv verbessert werden: Wenn es mehr Studienplätze und Weiterbildungsangebote gibt. Und wenn wir endlich einen fairen Tarif bekommen.
Beginnen wir mit dem ersten Punkt: Was muss sich in der Ausbildung ändern?
Haus- und Kinderärzte haben immer noch zu wenig Möglichkeiten, den Jungen zu zeigen, wie toll ihr Job ist. Sie sehen an der Uni die Spitzenmedizin und lassen sich davon blenden. Viele der Professoren sind Spezialisten. Weniger als 10 Prozent der Vorlesungen im Studium betreffen die Hausarztmedizin. Und weil die Spitäler viele Leute brauchen, gehen die meisten Assistenzärzte für die fünfjährige Weiterbildung dorthin. Es ist paradox: Die Politik will die Grundversorgung stärken, sie fordert mehr ambulante Behandlungen. Aber sie macht nichts dafür. Uns fragt niemand: Wie viele Leute braucht ihr in diesem Bereich?
Was wäre die Antwort?
Die heute 280 Praxisassistenzstellen schweizweit reichen nirgends hin. Es brauchte fast dreimal so viel, um künftig genug Hausärzte zu haben. Hier sind die Kantone gefragt. In Bern sind die Praxisstellen für Assistenzärzte noch relativ gut finanziell unterstützt. Aber es gibt Kantone, die das gar nicht kennen. Es fehlt eine vernünftige Versorgungsplanung, die Hausärzte und Spezialisten einbezieht. Wie viele Kardiologen braucht es in Bern? Niemand weiss das, niemanden kümmert es.
Sie wollen mehr Planwirtschaft in der Medizin?
Es braucht einfach Anreize, dass mehr Leute in die Grundversorgung gehen. Heute beträgt der Anteil der Haus- und Kinderärzte an der ganzen Ärzteschaft in der Schweiz rund 30 Prozent. Laut Studien müsste er bei 50 oder sogar 60 Prozent liegen. Es ist hinlänglich bewiesen, dass ein hausärztebasiertes Gesundheitswesen günstiger ist. Heute hatte ich eine Patientin, die sieben Probleme hatte. Ich konnte sechs davon in 25 Minuten lösen. Einzig wegen eines Verdachts auf weissen Hautkrebs musste ich sie an einen Spezialisten überweisen.
Was müsste sich bei den Tarifen ändern? Wenn Hausärzte gleich viel verdienen sollen wie Spezialisten, droht uns ein massiver Kostenschub.
Der aktuelle Tarif ist über 20 Jahre alt und einfach nicht mehr zeitgemäss. Er bildet weder die Infrastruktur noch die Personalkosten von heute ab. Der Tarif entspricht auch nicht der modernen Arbeitsweise. Zum Beispiel übernehmen unsere medizinischen Praxisassistentinnen zunehmend höher qualifizierte Arbeit, doch das wird nicht korrekt entgolten. Zudem haben heute Haus- und Kinderärzte generell deutlich schlechtere Tarife als die sogenannten Spezialisten. Diese Ungleichbehandlung ist unfair. Wir sind ebenfalls Spezialisten, unser Fachgebiet ist das Generelle. Unsere Aus- und Weiterbildung dauert genau gleich lang, es gibt keinen Grund, dass wir weniger verdienen sollten. Das schreckt auch junge Medizinstudenten ab. Aber es ist klar: Eine Tarifreform darf nicht zu Mehrkosten führen.
Also braucht es eine Umverteilung innerhalb der Ärzteschaft: weniger für Spezialisten, mehr für Grundversorger. Die Hausärzte müssten sich innerhalb des Ärzteverbands FMH gegen die Spezialärzte durchsetzen.
Wir haben unsere Arbeit gemacht: Sämtliche Fachrichtungen haben sich in der FMH in einem schwierigen, mehrjährigen Prozess auf einen neuen Tarif geeinigt, den Tardoc. Bereits 2019 haben wir beim Bund eine erste Version eingereicht, diese wurde schon mehrmals verfeinert – doch der Bundesrat hat den Tardoc noch immer nicht eingeführt.
Gesundheitsministerin Elisabeth Baume-Schneider will vor den Sommerferien entscheiden, wie es weitergeht. Offenbar tendiert sie zu einer weiteren Verschiebung. Wie erklären Sie sich das?
Ich kann das Zögern nicht ansatzweise nachvollziehen. Der heutige Tarif ist völlig veraltet, das bestreitet niemand. Unser neuer Tarif wird einstimmig von allen Ärztegruppen unterstützt. Auch der Krankenkassenverband Curafutura steht dahinter. Und trotzdem behauptet der Bundesrat noch immer, er könne nicht entscheiden? Das geht nicht auf. Wer den neuen Tarif weiter hinausschiebt, schadet der Grundversorgung. Es soll dann einfach niemand mehr behaupten, wir Ärzte seien nicht kooperativ. Wir haben eine Lösung vorgelegt, die Kostenneutralität ist garantiert. Wenn das jetzt scheitert, muss Frau Baume-Schneider die Verantwortung übernehmen.
Was würde sich konkret mit dem Tardoc verbessern?
Erstens wären ärztliche Leistungen überall gleich abgegolten: in der Praxis, im Gesundheitszentrum, im Spital. Zweitens fiele die absurde Regel weg, dass gewisse Fachrichtungen ohne jeden Grund höhere Tarife verrechnen dürfen. Drittens gäbe es im neuen Tarif erstmals ein eigenes Kapitel für die Haus- und Kinderärzte. Gesamthaft würden wir endlich den anderen Fachrichtungen gleichgestellt.
Im Bundesamt für Gesundheit gibt es Bedenken: Die Auswirkungen des neuen Tarifs seien nicht klar.
Das ist normal bei einem solchen Wechsel. Deshalb sieht unser Vorschlag eine mehrjährige Übergangszeit vor, in der wir den Tarif fortlaufend justieren. Wenn in einem Gebiet die Kosten stark steigen, kann man dort eingreifen. Entscheidend ist, dass wir ein zeitgemässes System haben, das sich wieder steuern lässt. Heute ist alles blockiert. Neu wäre es möglich, gezielt die Grundversorgung zu stärken.
Nun gibt es aber Widerstand: Die Spitäler und der andere Krankenkassenverband, Santésuisse, haben für einen Teil der ambulanten Leistungen Fallpauschalen erarbeitet. Sie verlangen, dass diese gleichzeitig eingeführt werden. Das lehnen FMH und Curafutura ab. Sie auch?
Ja. Pauschalen sind eine gute Sache, aber der vorliegende Vorschlag ist nicht ausgereift. Die Spitäler haben ihn in kürzester Zeit und auf eigene Faust entwickelt, ohne Einbezug der medizinischen Fachgesellschaften. Diese Pauschalen sind nicht sachgerecht und nicht klar abgegrenzt, das sagen Fachspezialisten und auch Spitalärzte. Dann gibt es noch ein anderes Problem: Die Pauschalen wurden einzig mit den Daten der Spitäler erarbeitet.
Wieso ist das ein Problem?
Weil dann viele Pauschalen zu hoch festgelegt würden. Es gibt Untersuchungen oder Eingriffe, die nicht nur im Spital gemacht werden können, sondern auch in ambulanten Operationszentren oder spezialisierten Gruppenpraxen. Dort sind die Kosten tiefer, weil nicht die teure Infrastruktur des Spitals mitfinanziert werden muss. Solche Kostendaten müssen zwingend einfliessen, sonst wird es überhöhte Pauschalen geben. Ich verstehe, dass die Spitäler, die um ihr wirtschaftliches Überleben kämpfen, höhere Erträge suchen. Aber das Geld in der Grundversicherung ist knapp. Wir müssen dafür sorgen, dass Leistungen vermehrt dort erbracht werden, wo sie am günstigsten sind, aber qualitativ ebenso gut.
Verstehen wir Sie richtig: Die Pauschalen sind ein Versuch der Spitäler, den überfälligen Strukturwandel aufzuhalten?
Das ist etwas zugespitzt formuliert . . . aber ja, so ist es. Die Spitäler brauchen dringend mehr Geld. Teilweise sind ihre Forderungen berechtigt, die Psychiatrie etwa ist klar unterfinanziert. Aber es darf nicht sein, dass die Grundversicherung unnötig viel bezahlt, damit Spitäler gewisse Leistungen weiterhin anbieten können, die ebenso gut in einer günstigeren Infrastruktur erbracht werden können. Besonders gravierend wäre das, wenn am Ende die kostengünstige Grundversorgung darunter leidet.
Wieso sollte das passieren?
Wegen der vom Gesetz vorgeschriebenen Kostenneutralität. Nehmen wir an, die Spitäler könnten mit den Pauschalen tatsächlich zu hohe Einnahmen herausholen. Dann würden im Gegenzug zwangsläufig die Tarife der Praxisärzte gekürzt, weil die Kosten gesamthaft nicht steigen dürfen. Deshalb sind wir vehement gegen die überstürzte Einführung der unreifen Pauschalen. Es gibt keine Notwendigkeit, sie gleichzeitig mit dem Tardoc einzuführen – mit potenziell schädlichen Auswirkungen auf uns Grundversorger.