Unsere Autorin kann sich Gesichter manchmal nicht gut merken. Doch Menschen mit ausgeprägter Gesichtsblindheit erkennen nicht einmal ihre nächsten Angehörigen. Forscher haben untersucht, wie sie mit den oft peinlichen Folgen dieser Wahrnehmungsstörung umgehen.
An manche Gesichter kann ich mich partout nicht erinnern, auch wenn ich sie bereits mehrmals gesehen habe. Wenn die betreffende Person dann freundlich lächelnd auf mich zukommt und mich aufs Herzlichste begrüsst, ist Improvisation gefragt: nur nichts anmerken lassen.
Was mir nur gelegentlich widerfährt, erleben andere ständig. Erst vor kurzem erzählte mir eine Bekannte von ihrer stark ausgeprägten Gesichtsblindheit. Sie könne seit je die wenigsten Menschen wiedererkennen und gerate deshalb immer wieder in extrem unangenehme Situationen. Durchschnittlich gesichtsbegabte Menschen könnten sich nicht ansatzweise vorstellen, wie sehr diese Wahrnehmungsschwäche das alltägliche Leben beeinträchtige, erzählte sie.
Die angeborene Gesichtsblindheit, im Fachjargon kongenitale Prosopagnosie genannt, ist gar nicht so selten. Gemäss Schätzungen tritt sie bei 1 bis 3 Prozent der Bevölkerung auf. Fasst man die diagnostischen Kriterien etwas weiter, könnte dieser Anteil sogar bei mehr als 5 Prozent liegen. Zu diesem Schluss kamen kürzlich Forscher um Joseph DeGutis von der Harvard Medical School im Fachblatt «Cortex».
Wie die Störung genau zustande kommt, ist noch weitgehend unklar. Wissenschafter gehen davon aus, dass sie in der Regel auf einer genetisch bedingten Funktionsstörung eines für die Gesichtserkennung zuständigen Areals in einer bestimmten Windung des Grosshirns beruht, dem Gyrus fusiformis.
Manche Gesichtsblinde erkennen nicht einmal den Ehepartner
Ist die erkennungsdienstliche Erfassung im Gehirn von Geburt an oder aufgrund einer Krankheit oder Verletzung beeinträchtigt, hat dies weitreichende, sozial unangenehme Folgen. Mit welchen Strategien die Betroffenen versuchen, ihr Manko auszugleichen, wollten Wissenschafter um die Psychologin Judith Lowes von der University of Stirling in Schottland wissen. Sie befragten dafür 29 Männer und Frauen mit ärztlich bestätigter angeborener Gesichtsblindheit.
Wie die Forscher in einem aktuellen Fachartikel berichten, konnten zwei Drittel der Probanden in einem ungewohnten Umfeld weniger als 10 nahestehende Personen erkennen. Den übrigen gelang dies nicht einmal beim Ehepartner, bei den Kindern oder anderen engen Familienmitgliedern.
Um sich zu behelfen, orientierten sich die Betroffenen an anderen Charakteristika ihres Gegenübers, etwa der Stimme, Tätowierungen, der Gestalt oder auch dem Gang. Eine weitere Strategie besteht in der Überlegung, mit welcher Wahrscheinlichkeit sich eine bestimmte Person an einem spezifischen Ort befindet. So gab eine Probandin an, sie würde auf diese Weise versuchen, ihre Arbeitskollegen rechtzeitig zu identifizieren.
Durchschnittsmenschen ohne Prosopagnosie können demgegenüber zwischen 1000 und 10 000 Gesichter auseinanderhalten, und das meist auch ohne den Kontext bestimmter sozialer Situationen. Super-Recognizer, die der Polizei bei der Identifikation von Verbrechern helfen, bringen es sogar auf 100 000 und mehr Gesichter – eine Zahl, die nicht nur für Gesichtsblinde kaum vorstellbar ist.
Bereits erschienene Texte unserer Kolumne «Hauptsache, gesund» finden Sie hier.