Halbzeit bei den Biathlon-WM in Lenzerheide. Noch immer ist die Schweiz ohne Medaille – aber das Land lernt den Sport langsam kennen. Ein Augenschein vor Ort.
Ein kollektives «Ooooh» erklingt von der Tribüne, mit einem enttäuschten Unterton. Die Biathletin Amy Baserga hat gerade den letzten Schuss abgegeben – und danebengeschossen. Damit ist klar, dass die Schweiz auch an diesem Dienstag in der zweiten Woche der Weltmeisterschaften im eigenen Land ohne Medaille bleiben wird.
Noch nie hat eine Schweizer Biathletin oder ein Schweizer Biathlet eine WM-Medaille gewonnen, aber das ist auch nicht verwunderlich – die Schweiz und Biathlon, das hat noch keine Tradition. Selbst die erst 24-jährige Baserga musste in ihrer Jugend noch erklären, dass der Biathlon nicht aus Schwimmen und Laufen besteht.
Aber nun finden Heim-WM in Lenzerheide statt. Und die Wintersport-Fans nutzen das makellose Winterwetter im Bündnerland, um sich von dieser Sportart mitreissen zu lassen, in der ein perfektes Rennen von einer Sekunde auf die andere in eine desaströse Niederlage kippen kann. Schon drei Stunden vor dem Wettkampf unterhalten sich die Menschen hier im Village, der Fanzone, die einen kurzen Fussmarsch vom Stadion der Biathlon-Arena entfernt ist.
Fast alle Sitzplätze in der Sonne sind besetzt, und vor dem Stand von Swiss Shooting, dem Schweizer Schiesssportverband, bildet sich eine Schlange. Hier kann man das Zielen mit einer Laserpistole ausprobieren, und manch einer überlegt es sich danach zweimal, ob er sich über allfällige Fehlschüsse der Spitzenathletinnen wirklich das Maul zerreissen soll.
Daneben bietet ein riesiges Chalet Platz für 900 Menschen – hier wird tagsüber Wintersport übertragen, abends spielt Live-Musik. Während der paar Tage, an denen sich die Biathlon- mit den Alpin-WM in Saalbach überschnitten, war das Chalet zum Bersten voll.
Auf dem Spazierweg zwischen der Fanmeile und dem Stadion stutzt kurz, wer die Langläufer beobachtet, die hier ihre Runden drehen. Dass sie nicht dem Bild von Weltklasse-Ausdauerathleten entsprechen, hat seinen Grund: Es sind die Serviceteams, die hier mehrere Paar Ski aufgereiht haben, diese testen und Daten sammeln. Damit sie wissen, welche Wachsmischung auf dem gegenwärtigen Schnee am besten funktioniert.
Mit der Mentaltrainerin auf das Heimpublikum vorbereitet
Mehr als 6000 Menschen sind am Dienstag zum Frauen-Einzel gekommen, der ältesten und längsten Disziplin: 15 Kilometer Langlauf, aufgeteilt auf fünf Runden; dazwischen folgen vier Schiessen, zweimal im Liegen, zweimal stehend. Immer wieder folgt im Stadion auf das laute Anfeuern kurzzeitig Stille, wenn sich eine der vier Schweizerinnen am Schiessstand bereitmacht. Und dann: langgezogene «Oooohs» in verschiedenen Tonlagen, je nach Treffer.
Die Schweizer Team-Leaderin Lena Häcki-Gross hat sich mit ihrer Mentaltrainerin vor den WM genau auf dieses Szenario vorbereitet. Denn dass die Zuschauer auf ihren Schiess-Rhythmus reagieren, passiert ihr an Rennen in Biathlon-Hochburgen im Ausland wie etwa in Ruhpolding oder Antholz nicht. Der Weltcup im Dezember 2023 als Hauptprobe auf die WM in Lenzerheide hat geholfen, verschiedene Szenarien durchgehen und visualisieren zu können.
Dennoch sind der Druck und die Atmosphäre an den Heim-WM überwältigend. Häcki-Gross verpasste die Medaillen im Sprint als Vierte und in der Verfolgung als Fünfte zweimal knapp, am Dienstag im Einzel wurde sie Sechzehnte.
In der Verfolgung vom Sonntag hatte sie zeitweise geführt, doch dann zeigte sie Nerven, «bei mir zitterte alles». Selbst für erfahrene Athletinnen wie die 29-Jährige bleibt der Biathlon eine Psycho-Sportart, und dies, obwohl ein Profi ausserhalb der Saison im Training bis zu 25 000 Schüsse pro Jahr abgibt, jede Handbewegung tausendmal geübt, das Schiessen mit hohem Puls perfektioniert wird.
Damit hat auch Amy Baserga ihre Erfahrung in Lenzerheide gemacht. Sie zählt zu den besten Schützinnen der Welt, ihre Quote liegt bei 91,58 Prozent. Doch dann verschoss sie am Freitag im ersten Einzel-Wettkampf in Lenzerheide die Hälfte. «Noch nie im Leben hatte ich einen so schlechten Wettkampf», sagte die Schwyzerin, die im Januar zum ersten Mal auf ein Einzel-Podest im Weltcup vorgestossen war, mit ein paar Tagen Abstand. Sie wollte an den Heim-WM zu viel, dabei wären genau die grossen Momente ihre Stärke. Die zweifache Junioren-Weltmeisterin von 2020 war früher nicht die Trainingsfleissigste, an einer Startlinie aber war sie wie ausgewechselt: fokussiert, ehrgeizig und dennoch locker.
Den Schwung mitnehmen für die Entwicklung des Biathlons
Ein langer Spaziergang mit dem Hund, zwei Telefonate mit der Mentaltrainerin und ein Training ganz alleine im Schiessstand brachten Baserga wieder in die Spur. Auch sie träumt von einer Medaille, der 19. Rang am Dienstag war da bloss ein Zwischenschritt aus der Verunsicherung heraus. Denn aufgrund der Leistung vom Freitag hatte sie gar die Qualifikation für die Verfolgung vom Sonntag verpasst – 50 Mitglieder ihres Fanklubs reisten trotzdem an.
Insgesamt 13 500 Menschen waren am Sonntag gekommen, dem bisherigen Spitzentag. Das waren so viele, dass es beim Einlass vor der Tribüne zum Stau kam. Es ist eines der Details, die bei Jürg Capol auf die Liste der Dinge kommen, die es noch zu verbessern gilt. Der ehemalige Langläufer ist CEO der WM und hat sich zum Ziel gesetzt, den Anlass zum Biathlon-Fest zu machen. Er hat aber noch ein anderes Interesse an der Entwicklung der Sportart: Ab April wird er Nordisch-Direktor bei Swiss Ski, der Biathlon wird eines seiner Aufgabenfelder sein.
«Es wäre schön, wenn wir den Schwung mitnehmen könnten», sagt Capol und spricht von der Basis, etwa den Schulprojekten, die den Kindern die Sportart näherbringen soll. Dann wendet er sich wieder der Spitze der Pyramide zu, den Weltmeisterschaften, und zieht eine kurze Halbzeitbilanz: Die budgetierten 55 000 zahlenden Eintritte sollten erreicht werden, insgesamt rechnet Capol mit 80 000 Menschen. Ob diese noch eine Schweizer Medaille sehen werden?