Wagnis oder Vorteil im Überlebenskampf? Die Energiewende ist ein Kraftakt für die Industrie, das zeigen die Traditionsfirmen Perlen Papier und Flumroc.
Wenn ein Firmenchef in seiner Präsentation Bilder von Zombies zeigt, ist die Lage ernst. Klemens Gottstein tut das, denn bei Perlen Papier ist kein Platz für Schönfärberei. Die Papierfabrik im Osten des Kantons Luzern ist über 150 Jahre alt und die letzte in der Schweiz, die Zeitungspapier herstellt. Und sie soll kein Zombie werden, kein lebender Toter. «Auch wenn sich alle aus der Branche verabschieden, wir werden es sicher nicht. Unsere Strategie heisst überleben», sagt der CEO.
Die Produktion von Papier schrumpft seit rund 15 Jahren, denn Zeitungen und Zeitschriften werden immer mehr digital gelesen. Der Umsatz von Perlen Papier sank 2023 um fast einen Drittel auf 262 Millionen Franken. Jetzt greift die Muttergesellschaft zu drastischen Mitteln. Ende Juni will die CPH-Gruppe das Papiergeschäft abspalten und von der Börse nehmen. Sie behält die Bereiche Chemie und Verpackung, die bessere Wachstumsaussichten bieten.
Heisse Luft als Überlebensvorteil
In ihrem Überlebenskampf schleppt die Papierbranche schweres Gepäck. Die Papierfabrik Perlen erstreckt sich über ein weitläufiges Areal entlang der Reuss. Nicht nur zwei riesige Papiermaschinen gehören zum Betrieb, auch zwei Wasserkraftwerke, ein Biomassekraftwerk, eine Kläranlage, ein Altpapierlager und ein Holzmahlwerk. «In dieser kapitalintensiven Branche ist eine niedrige Auslastung nicht lustig», sagte Gottstein Ende Mai beim Besuch einer Gruppe Journalisten.
Wer der letzte Überlebende nicht nur sein, sondern auch bleiben will, muss die Kosten niedrig halten. Zum Beispiel für Energie. Diese Herausforderung stellt sich oft in der Schweizer Industrie. Zum ohnehin grossen Wettbewerbsdruck kommen die deutlich gestiegenen Kosten für Strom und Brennstoffe hinzu – und obendrein die Aufgabe, klimafreundlicher zu werden.
Perlen Papier hat nicht viele Trümpfe, aber einen grossen: heissen Dampf. Er heizt die grossen Walzen, mit denen das Papier getrocknet wird. Früher wurde diese Wärme mit Heizöl oder Erdgas erzeugt. Heute bekommt die Fabrik den Dampf geliefert. Er stammt von der Müllverbrennungsanlage Renergia, die nebenan wie ein graues Raumschiff in der grünen Landschaft liegt.
Das ist nicht selbstverständlich, sondern brauchte seltene politische Einigkeit. Im Jahr 2011 beschlossen die sechs Kantone der Innerschweiz, ihren Abfall nicht mehr hauptsächlich auf die angrenzenden Regionen zu verteilen, sondern neben der Papierfabrik eine neue Verbrennungsanlage zu bauen. Gottstein berichtet, er habe das zuerst gar nicht glauben können.
Schweizer Müll statt russisches Erdgas
«Wenn man aus der Zentralschweiz kommt, ist das eine ganz grosse und aufwendige Sache», bestätigt Gregor Jung, Betriebsleiter der Renergia. «Im Normalfall gönnt der Obwaldner dem Nidwaldner nicht einmal das Kopfweh, der Urner will nichts vom Luzerner wissen, und die Zuger sind sowieso halbe Zürcher.»
Der wirtschaftliche Sinn ist offenkundig: Die Müllverbrennungsanlage produziert viel Dampf. Mittels einer Turbine macht sie daraus Strom und ist der grösste Stromerzeuger im Kanton Luzern. Sie speist den Dampf auch in das Fernwärmenetz. Aber dort schwankt die Nachfrage. Im Sommer wird kaum geheizt. Hingegen ist die Papierfabrik ein konstanter Abnehmer.
Und ein dankbarer Abnehmer. Denn sonst hätte es das Traditionsunternehmen noch schwerer. Zwar hat Perlen Papier vier Kessel, um den Dampf auf alte Art zu erzeugen. Aber aus Kostengründen werden sie möglichst selten befeuert – erst recht seit der Ukraine-Krise.
Als der Erdgaspreis in Europa in die Höhe schoss, hat das manchen Papierfabriken das Genick gebrochen, die ihren Dampf nur mit Gas erzeugen konnten. Hingegen war Perlen nicht nur vor der Preisexplosion geschützt, das Unternehmen musste auch nicht um Nachschub bangen. Gas kommt vom Weltmarkt. Die Zentralschweizer Bevölkerung macht ihren Müll selbst.
Dank dem Dampf der Renergia muss Perlen Papier 30 Millionen Kubikmeter Erdgas pro Jahr weniger verbrennen. Das hat massgeblich dazu beigetragen, die CO2-Emissionen der Fabrik seit 2013 um 88 Prozent zu senken. Nach eigenen Angaben liegt der CO2-Fussabdruck rund drei Viertel niedriger als im Durchschnitt der Branche. Klemens Gottstein sieht das als wichtiges Verkaufsargument, um Kunden zu gewinnen: «Wir machen austauschbare Massenprodukte. Da ist die Frage, wie man sich differenzieren kann.»
Flumroc investiert mehr als einen Jahresumsatz
So sieht es auch Damian Gort. Er ist der Geschäftsführer von Flumroc, dem einzigen Schweizer Produzenten von Steinwolle. Seit dem Jahr 1950 wird in Flums im Sarganserland der feuerbeständige Dämmstoff hergestellt. Dafür wird Gestein geschmolzen – und das seit wenigen Wochen in einem neuen Ofen, der mit Strom betrieben wird. Früher wurde Kokskohle verfeuert. Der Wechsel hat die Emissionen bei der Steinschmelze um 80 Prozent reduziert.
«Wenn man in der Schweiz noch mit schweren Anlagen etwas produzieren will, dann muss man innovativ sein und sich abheben können», so ist Gort überzeugt. Eine Möglichkeit ist Nachhaltigkeit. Nicht nur fallen die Emissionen durch die Kohleverbrennung weg. Flumroc kauft auch nur Strom aus Schweizer Wasserkraft. Und mit dem neuen Schmelzofen, dem weltgrössten seiner Art, produziert die Firma 15 Prozent energieeffizienter.
Doch wie bei Perlen Papier war die Umstellung keine Selbstverständlichkeit – im Gegenteil. Die Investition in den Ofen hat über 100 Millionen Franken gekostet, etwas mehr als einen Jahresumsatz von Flumroc. Ob die Rechnung aufgeht, ist offen: «Kurzfristig ergibt das wirtschaftlich keinen Sinn. Es braucht den Glauben, dass es langfristig funktionieren wird», sagt Gort. Auch andere Teile der Produktion wurden erneuert, darunter die Abluftreinigung. Es war das grösste Projekt der Firma seit rund 50 Jahren.
Früher war der Kohlepreis volatil und der Strompreis stabil. Der Investitionsentscheid wurde vor dem Ukraine-Krieg gefällt – und damit vor den Preissprüngen am Strommarkt. Nun ist Flumroc ganz vom Strompreis abhängig. Eine Krise dieses Ausmasses hatte man sich nicht vorstellen können.
Dennoch hielt das Unternehmen an dem Umbau fest. Weil die zwei alten Öfen langsam in die Jahre kamen, musste aus technischen Gründen ohnehin etwas getan werden. Die Alternative wäre eine Modernisierung gewesen – aber dann hätte sich erst wieder in etwa 15 Jahren die Chance auf eine Umstellung auf erneuerbare Energien ergeben. Solche enormen Anlagen tauscht man nicht kurzfristig aus.
Eine Wette auf den CO2-Preis
«Es geht auch darum, etwas umzusetzen und nicht immer nur zu sagen, man sollte, man hätte oder man müsste», so argumentiert Gort im Gespräch. «Irgendwann werden das Bewusstsein der Bevölkerung, die Regulierungen und der CO2-Preis uns Recht geben.» Damit meint der Geschäftsführer, dass der Preis für den Ausstoss von CO2, der im Emissionshandel bezahlt werden muss, in Zukunft so weit steigen könnte, dass Flumroc mit dem elektrischen Ofen günstiger fährt als mit fossilem Brennstoff. Wann das so sein wird, ist nicht absehbar.
Die hohe Investition war auch deshalb ein Wagnis, weil in der Baustoffbranche keine Traummargen erzielt werden. Flumroc gehört seit 2017 zum dänischen Unternehmen Rockwool. Die Muttergesellschaft erwirtschaftete vergangenes Jahr einen Umsatz von 3,6 Milliarden Euro, 7 Prozent weniger als 2022. Dennoch haben die Dänen die teure Schweiz gewählt, um Flums zum nachhaltigsten Standort in der Gruppe aufzurüsten. Die Logik: Wenn man elektrifiziert, dann dort, wo es genug Ökostrom gibt. Die Emissionen nur zu kompensieren, kam nicht infrage.
Flumrocs Kalkulation hat viel mit «Glauben» zu tun – ein Wort, das Damian Gort oft benutzt. Er glaubt auch fest daran, dass viel dämmende Steinwolle gebraucht wird, weil die Klimabilanz im Schweizer Wohnungssektor dringend verbessert werden müsse. Die grossen Mengen Energie, die es zur Steinschmelze und zur Herstellung von Steinwolle braucht, würden durch die Einsparungen beim Heizen schnell und um ein Vielfaches ausgeglichen.
Fest steht: Das Recycling ist einfacher und günstiger geworden. Alte Steinwolle, die beim Abriss von Gebäuden eingesammelt wird, kann bei Flumroc einfach wiederverwendet werden – ebenso wie Abschnitte aus der eigenen Produktion. So unkompliziert ist das erst mit dem neuen Ofen möglich. Dieser läuft seit dem Betriebsstart einwandfrei.