Schauspiel als Kontaktsport: Der grosse amerikanische Film- und Theaterdarsteller Denzel Washington wird 70 Jahre alt.
Einmal, bei einer Begegnung vor gut zehn Jahren, nahm Denzel Washington einen Journalisten in die Mangel. Buchstäblich. Mit einem Unterarmwürgegriff hatte er ihn im Schwitzkasten. Natürlich war es nur Spass. Er wollte demonstrieren, wie er sich bei den Dreharbeiten zum Film «The Equalizer» ein blaues Auge zugezogen hatte.
In einer Szene sollte er seinen Spielpartner würgen. Dabei seien der Kollege und er mit den Köpfen zusammengeprallt, erklärte er. In der Gruppe von Journalisten, die ihn interviewte, suchte sich Washington also ein Opfer, um zu veranschaulichen, wie es zur unfreiwilligen Kopfnuss gekommen war. Er machte ein paar Schritte um den Tisch, dann kam er plötzlich von hinten herangepirscht.
Von Denzel Washington (sanft) gewürgt zu werden, ist natürlich ein grosser Moment im Leben eines jungen Filmkritikers, der aufgewachsen ist mit allerlei Hits des Hollywoodstars. Mit dem epochalen Bürgerkriegsschinken «Glory» (1989), mit «Malcolm X» (1992), später dem prophetischen Terrorismus-Reisser «The Siege» (1998).
Gleichzeitig charakterisiert die Aktion den Mann geradezu mustergültig. Das Anpackende, gerne auch etwas Theatralische ist typisch für ihn. So kennt man ihn aus ziemlich jedem seiner gut fünfzig Filme. Er ist ein raumgreifender Darsteller. Schauspiel betreibt er als Kontaktsport. Es darf auch weh tun.
Mitleid mit dem Double
Sogar foltern lässt er sich. Davon erzählte er bei einer weiteren Begegnung. Für den Film «Safe House» habe er Waterboarding über sich ergehen lassen, wusste Washington zu berichten. Eigentlich sei ein Stuntman vorgesehen gewesen, doch der Star hatte laut eigener Aussage zu viel Mitleid mit dem Double. «Weg da, ich mache das selbst», sagte er. Dann habe er sich zum verunsicherten Kollegen gewandt, der den Folterer spielte, und ihn angespornt: «Keine Angst, Junge. Lass es fliessen!»
Wichtig sei , dass man die Atmung unter Kontrolle habe, führte Denzel Washington weiter aus. Wobei er das nun ungefähr so abgebrüht sagte, als würde er eine Yoga-Klasse unterrichten. Atme man abrupt ein, habe man ein Problem. «Ich bin ein guter Schwimmer», meinte er abschliessend zu seiner Erfahrung mit Waterboarding, «das hat geholfen.»
Denzel Washington, 70 Jahre alt, ist ein gnadenloser Sprücheklopfer. Ein Geschichtenerzähler vor dem Herrn. Er geniesst den Auftritt. Vielleicht ist er der leutseligste von allen Hollywoodstars. Höchstens Tom Hanks kommt an ihn heran, der einmal beim Anblick einer besonders grossen Gruppe von Journalisten, die ihn zum Interview erwarteten, vor Freude fast auf den Stuhl gesprungen wäre: «Publikum!», rief er aus. «I need an audience!»
Washington ist genau so. Er hat eine unbändige performative Energie. In Gesellschaft geht er auf. Über die Jahre zeigte sich in mehreren Begegnungen ein ähnliches Bild: Ab drei Leuten im Raum ist dieser Denzel Washington wie auf einer Bühne.
Dort ist er in seinem Element. «Theater», so sagte er bei einem der Gespräche, «ist härter als Film, es ist meine erste Liebe.» Grund sei der Live-Charakter. Der trainiere die Konzentration. Washington will sich verausgaben. «Theater ist Work-out für die Schauspielermuskeln.» Seiner Ansicht nach sollte jeder Filmdarsteller «gelegentlich zurück auf die Bühne, egal wie erfolgreich er ist». Beim Film könnte man nämlich faul werden, «aber wenn dir auf der Bühne etwas runterfällt, musst du es aufheben».
Wuchtig wie Al Pacino
Das Acting steckt im reacting: Denzel Washington mag es, gereizt zu werden. Darin erinnert er stark an Al Pacino, den anderen grossen Charismatiker des amerikanischen Films. Beide suchen den exaltierten Auftritt. Sie verschwinden nicht in den Figuren, sondern sie verwirklichen sich in ihnen. Sie stehen für einen Existenzialismus in der Darstellungskunst, wie ihn zuerst Marlon Brando geprägt hat. Pacino baute auf Pate Brando auf, und wenn man so will, ist der 15 Jahre jüngere Denzel Washington der kleine, grossgewachsene Adoptivbruder von Al Pacino.
Mehr Wucht als die beiden bringt kaum jemand auf die Leinwand. Sie sind auch biografisch aus ähnlichem Holz geschnitzt. Das Brot der frühen Jahre war hart. Washington wuchs unweit von Pacino in New York auf, wenn auch nicht ganz so prekär. Während der italienischstämmige Junge in der Bronx sozialisiert wurde, lebte Denzel im Vorort Mount Vernon, nördlich der Bronx.
Auch er geriet als Teenager in schlechte Gesellschaft. Seine besten Freunde wanderten ausnahmslos ins Gefängnis. Diejenigen von Pacino starben an Drogen. Gemeinsam hatten die beiden zudem, dass die Väter die Familie verliessen. Es waren die Mütter, die den Totalabsturz der Söhne verhinderten. Rose Gerardi Pacino sorgte sich rührend um ihren «Sonny Boy», wie dieser in seinen Memoiren schildert.
Ein Schauspieler von seinem Kaliber darf so ziemlich alles spielen, was Washington in seiner rund 45-jährigen Karriere auch getan hat. Aufnahmen: Anfang der 1990er Jahre.
Und Lennis Washington, die im Schönheitssalon arbeitete, vermochte genug Geld zusammenzukratzen, um ihr Kind auf eine Privatschule zu schicken. «Das hat mir das Leben gerettet», pflegt Washington zu sagen. Der rebellische Jugendliche bekam sich in den Griff.
Sicher war es nicht zuletzt die gute Schule, die seinen Habitus prägte. Und den Unterschied zu Pacino machte: Im Spiel strahlt Washington eine beispiellose Unerschütterlichkeit aus. Er ruht in sich. Pacino dagegen tigert herum, das ist sein Markenzeichen. Pacino ist ein Schauspieler, der kräftig ausatmet, Washington atmet tief ein.
Mit Shakespeare zum Star
Aber beide sind sie Strassenkatzen, die im Theater domestiziert wurden. Wo dann namentlich Shakespeare sie lehrte, was Sein oder Nichtsein bedeutet: Während der junge Pacino, wie er in seinem Buch schreibt, Zeilen übte, indem er irgendwo in einer Gasse «überschwänglich jambische Pentameter in die Nacht hinausschrie», spielte der junge Washington im Schultheater den Othello.
In einer Off-Broadway-Aufführung von «Coriolanus» sorgte er 1979 zum ersten Mal für Furore. Viele Jahre später begeisterte er etwa in Kenneth Branaghs Adaption von «Much Ado About Nothing». Oder wuchtete sich in elisabethanischem Englisch durch Joel Coens buchstabentreue «Tragedy of Macbeth».
Denzel Washington ist ein Darsteller nach dem archimedischen Prinzip: Alles, was um ihn herum ist, verdrängt er, und dadurch erhält er Auftrieb. Seine kraftvolle Präsenz prädestinierte ihn auch für das Actionkino. Besonders für die «Equalizer»-Filme, in denen er den stillen Aufräumer gab. Ein Killer, der im Baumarkt arbeitet und nachts nicht schlafen kann. Einer, der an der Gewalt in der Welt leidet und darum das Gesetz selber in die Hand nimmt. Der gut- und schwermütige Rächer: So etwas kann Denzel Washington wie kein anderer. «Man on Fire» von Tony Scott ging auch in diese Richtung, und in seiner zweiten Oscar-Rolle als Detective in «Training Day» interpretierte Washington das Gesetz gleichermassen auf seine Weise.
Vorliebe für Gottesfürchtige
Naturgemäss darf ein Schauspieler von seinem Kaliber so ziemlich alles spielen. Was Washington in seiner rund 45-jährigen Karriere auch getan hat. Wenn man dennoch nach einem Muster suchen wollte in der Rollenwahl, erkennt man eine Affinität für dominante Männer, die eine schwere Last tragen, aber auch viel Moral schultern.
Oft sind es Gottesfürchtige, die den Gang der Welt beklagen. Er kann «wie ein alttestamentarischer Patriarch über Welten hinwegragen», schrieb die «New York Times», die ihn 2020 zum besten Schauspieler der Gegenwart gekürt hat. Er sei nicht nur der Übervater, sondern auch ein «supreme regular-guy actor». Also ein überragender Normalbürger-Schauspieler.
Klassisch Washington ist tatsächlich auch der einfache Arbeiter, der die Katastrophe verhindert. Sei es als Lokomotivführer in «Unstoppable» (2010) oder als Fahrdienstleister in «The Taking of Pelham 123». Aber er versteht sich nicht nur auf den Schienenverkehr. Cockpit kann er auch. Für das Drama «Flight» veranschaulichte der Schauspieler, der einst zwei Flaschen Wein am Tag geschafft hat, bevor er es mit dem Trinken sein liess, brillant das Leid eines Alkoholikers.
Wie früher John Wayne und Clint Eastwood vermöge er gequälte Verletzlichkeit zum Ausdruck zu bringen, jedoch auch wie ein Koloss emporzuragen. So sagte es die «New York Times». Ich würde sagen: Er kann einen in die Mangel nehmen. Sanft oder auch nicht so sanft.