Was geschieht, wenn Russland den Krieg gewinnt? Dann wird Putin, berauscht vom Erfolg, die heisslaufende Kriegsmaschinerie weiterlaufen lassen. Nur: wohin, fragt sich der Schriftsteller Sergei Gerasimow.
Wann immer eine Shahed-Drohne vom Himmel herabschreit, bekomme ich das Gefühl, dass sie direkt auf mich zielt.
Heute nimmt mich ein Taxi mit kaputter Windschutzscheibe mit. Der Fahrer erklärt mir, er sei gerade an der Militärregistrierungsstelle vorbeigefahren, als eine Shahed eingeschlagen und die Strasse mit Glasscherben übersät habe. Er hatte gestoppt, um zu verhindern, dass das Glas seine Reifen zerschnitt.
In diesem Moment begann eine zweite Shahed, dem Geräusch nach aus grosser Höhe, direkt auf ihn zuzustürzen. Es war ein unerträglich lautes Dröhnen, und der Fahrer hatte sich bereits vom Leben verabschiedet. Die Shahed indes schlug in ein Gebäude gegenüber ein. Die Druckwelle zertrümmerte die Türen des Wagens, brach die Rückspiegel ab und zerschmetterte die Windschutzscheibe. Sie drückte das Auto ein gutes Stück weit nach vorne. Und dann stürzte eine dritte Shahed genau auf die Stelle, an der er vorher gerade angehalten hatte.
Der schwarze Faktor des Krieges
Der Taxifahrer hat eine leichte Gehirnerschütterung und ständige Kopfschmerzen davongetragen. Trotzdem rast er mit 105 Kilometern pro Stunde durch den frühen Morgen – die Höchstgeschwindigkeit beträgt 50 . . . Sein Kopf dröhnt, er vermag kaum durch die zersprungene Windschutzscheibe zu sehen, und er fährt doppelt so schnell wie erlaubt, aber das ist für mich in Ordnung. Ich vertraue ihm und fühle mich sicher. Denn dies ist Charkiw, dies ist die Ukraine, und hier wird alles, was passiert, mit dem dunklen Faktor des Krieges multipliziert – und die Logik bleibt oft auf der Strecke.
Nachts fallen Shaheds in der Nähe unseres Hauses. Keiner kann schlafen, und wir verschanzen uns im Flur, weil es dort sicherer ist. Draussen hören wir eilige Schritte auf der Treppe. Es ist eine Frau mit ihren beiden Kindern, die aus den oberen Stockwerken flüchtet – dem gefährlichsten Ort, an dem man sein kann. Die Kinder sind etwa fünf Jahre alt, es ist zwei Uhr morgens, ihre Mutter ist in Panik, und das Haus bebt von den Explosionen – aber die Kleinen weinen nicht. Denn das ist Charkiw, das ist die Ukraine, und alles, was hier passiert, wird mit dem dunklen Multiplikator des Krieges multipliziert – selbst das zarte Gemüt eines kleinen Kindes.
Die Russen frohlocken darüber, in dieser Nacht so viele Shaheds abgeschossen zu haben, mehr als siebenhundert. «Wartet nur, es kommen noch tausend!», lassen sie uns wissen.
Ich bin sicher, es werden tausend sein, oder zweitausend, aber selbst wenn sie zu Zehntausenden kommen, werden wir keine Angst haben. Wir werden nicht weinen. Andererseits sind auch die Russen keine Feiglinge. «Hurra! Das Dorf Selena Dolina gehört uns», schreibt ein russischer Frontkämpfer. «Unsere Verluste: 4200 Mann kamen hier ums Leben. Gott sei ihren Seelen gnädig.» Laut der letzten Volkszählung leben in dem Dorf gerade 186 Menschen.
Hunderte für eine Dorfhütte
Kann die grosse und mächtige Nato einem Land Furcht einflössen, das einfach so hundert Menschen opfert, um eine Dorfhütte mit einem Schweinestall und einem Geräteschuppen zu erobern? Ein Land, das aufrichtig stolz darauf ist, dass Peter der Grosse die Schweden einundzwanzig Jahre lang bekämpft hat?
Mark Rutte sagte kürzlich in einem Interview, die Nato müsse mit vereinten Kräften so stark gemacht werden, dass Russland Europa niemals angreifen werde. Zweifellos ist das so, aber das wird ein Land, das sich nie um Verluste scherte, nicht unbedingt aufhalten – ein Land, dem es egal ist, wie viele Millionen von Soldaten auf dem Schlachtfeld verenden oder wie viele Milliarden es für Krieg verschwendet. Ein Land, das gerne droht und Angst verbreitet, ein Land, das der zahnlosen und klauenlosen westlichen Demokratie mit Verachtung begegnet.
Erstaunlich, wie sehr es an Energie fehlt: Im Juni 2016, also vor neun Jahren, hat die Nato Russland zu einer grossen Bedrohung erklärt, und seitdem wird dieses Credo ständig wiederholt, aber ich fürchte, es wird weitere neun Jahre mit immer mehr Angriffen knapp unterhalb der Kriegsschwelle brauchen, bis die Europäer wirklich kapieren, dass Russland eine Bedrohung für sie darstellt. Und natürlich spreche ich hier nicht von jenen Europäern, die in Grenznähe zu Russland leben. Sie verstehen bereits alles, klar und deutlich.
Rutte sagte auch: «Wenn Xi Jinping Taiwan angreifen würde, würde er zuerst sicherstellen, dass er seinen Juniorpartner in alldem, Wladimir Wladimirowitsch Putin, der in Moskau residiert, anruft und ihm sagt: ‹Hey, ich ziehe das jetzt durch, und ich brauche dich, um sie in Europa zu beschäftigen, indem du Nato-Gebiet angreifst.›»
Das klingt beängstigend, aber auch das Umgekehrte ist möglich. Was, wenn Xi Taiwan attackiert, aber Putin nicht anruft? Die USA müssten dann dringend Streitkräfte aus Europa abziehen und damit die Ostflanke der Nato blosslegen. Was wird Wladimir Wladimirowitsch in diesem Fall tun? Er wird angreifen. Er greift immer dann an, wenn er bei anderen Schwäche verspürt. Und die fünf Prozent BIP für Verteidigung, die bis 2035 aufzubringen sich die meisten europäischen Länder bereit erklärt haben, sind Schwäche wie Drohung: eine artikulierte Drohung, gegen Russland aufzurüsten, und gleichzeitig das Eingeständnis, dass es nicht schnell genug gehen kann.
Das ist so, als ob an der Schule ein schmächtiger Streber einem kräftigen Mobber, der ihn schikaniert, sagen würde: «In zehn Jahren, wenn ich ernst gemacht haben werde mit dem Krafttraining, werde ich dich verprügeln. Versuch nur, mich zu verdreschen!»
Die Aussicht, sich ernsthaft ertüchtigt zu haben, ist allerdings nicht gerade gross. Eineinhalb der versprochenen fünf Prozent werden wahrscheinlich in den Bau von Strassen und Brücken fliessen, und der restliche Prozentsatz wird wahrscheinlich nicht aufgebracht werden. Spanien zum Beispiel hat in gewisser Weise recht, wenn es keine fünf Prozent BIP zahlen will, denn Putin wird es schon aus rein biologischen Gründen nie nach Spanien schaffen. Er bewegt sich langsam vorwärts, und alle Menschen, selbst Diktatoren, sind sterblich.
Selbst wenn Xi Jinping Taiwan nicht angreift, werden sich die USA nach und nach aus Europa zurückziehen und es mit Russland allein lassen. Die Nato wurde primär als Gegengewicht zur Sowjetunion geschaffen, aber die UdSSR gibt es schon lange nicht mehr, und der Hauptrivale der USA befindet sich jetzt viel weiter südlich und östlich von Moskau in Peking. Die USA werden die Europäer also auf jeden Fall sich selbst überlassen, und die Europäer werden sich einigermassen nackt vor dem Serientäter wiederfinden, der bereits mehrere Länder vergewaltigt hat.
Die Frage, wann Russland angreifen wird, ist leicht zu beantworten: sobald die Ukraine eine Niederlage erlitten hat.
Wenn es so weitergeht wie bisher, werden der Ukraine die Menschen ausgehen (was sicher vor 2035 der Fall sein wird), und dann werden keine gemeinsame Waffenproduktion, keine Raketenlieferungen an die Ukraine und keine Aufstockung der Mittel die Situation retten. Wenn die Ukraine kollabiert, wird der Diktator im Kreml, berauscht vom Erfolg und unfähig, die heisslaufende Kriegsmaschinerie zu stoppen, diese einfach weiterlaufen lassen, denn Menschenleben bedeuten ihm nichts, und Milliarden, die in den Wind geschossen werden, ebenso wenig. Aber «Dwischuha» ist gut. Dwischuha ist ein wundersames russisches Wort, eines, das Putin liebt. Es bezeichnet die Freude darüber, dass etwas geschieht, egal was.
Russland greift nicht an
Wenn die Ukraine verliert, wird die Moldau «plötzlich» beschliessen, sich wieder mit dem Kreml zu vereinigen. Dann werden die höflichen grünen Männchen, die gerade in Estland ein Referendum abhalten, sagen: «Wir haben niemanden angegriffen. Russland greift niemanden an. Es ist nur so, dass diejenigen, die Russland nicht mögen, manchmal ins Gras beissen, und dann gewinnt Russland neue Territorien.»
Schwer zu sagen ist, wo genau Russland angreifen wird, denn die Auswahl ist gross. Höchstwahrscheinlich wird eine neue «spezielle Militäroperation» dort stattfinden, wo nach Ansicht des Kremls eine weitere «Entmilitarisierung» und «Entnazifizierung» erforderlich ist. Länder mit einem relativ hohen Anteil an russischsprachiger Bevölkerung, die an Russland oder Weissrussland grenzen, sind: Kasachstan, Aserbaidschan, Georgien, Lettland, Litauen und Estland.
Putin könnte versuchen, als Erstes Kasachstan zu «entnazifizieren» und dies den Russen als grossen Sieg zu verkaufen, da dort schnell weite Gebiete erobert werden könnten. Da die Nato-Länder Russland jedoch zum Feind erklärt haben und sich aktiv für einen Krieg rüsten, könnten Lettland, Litauen und Estland sowohl «entmilitarisiert» als auch «entnazifiziert» werden müssen.
Russland könnte versuchen, via Narva in Estland einzumarschieren. Putin bezeichnete Narva bereits 2022 als «historisches russisches Land». Oder er könnte zunächst durch den «Suwalki-Korridor» in die Enklave Kaliningrad vorstossen und dann von Narva aus in Estland einmarschieren und die baltischen Republiken gleichzeitig von Norden und Süden her angreifen. Bereits 2019 probte Russland gemeinsam mit Weissrussland die Einnahme des Korridors. In den Augen der meisten Russen wäre dies kein Angriff, sondern eine Rückgabe dessen, was ihnen sowieso gehört, sprich eine Befreiung.
Die Frage, warum Russland angreifen würde, ist recht einfach zu beantworten. Einst half Stalin Hitler bei der Vorbereitung seines Krieges in Europa. Zunächst wurden deutsche Militärspezialisten in der Sowjetunion ausgebildet (und diese übernahm aktiv die Methoden der SS, so dass der Nutzen gegenseitig war). Später versorgte die Sowjetunion Hitler mit Nahrung und Rohstoffen. Schliesslich unterzeichneten die Sowjetunion und Deutschland am 23. August 1939 den berüchtigten Molotow-Ribbentrop-Pakt, der Hitler den Beginn des Zweiten Weltkriegs ermöglichte. Der Osten Polens und die baltischen Länder fielen dadurch unter Sowjetherrschaft.
Ähnliches geschieht jetzt. China nutzt die russische Aggression, um Europa, die USA und auch Russland zu schwächen, dem es den Rücken deckt. Der Einzige, der relativ stärker wird, ist China, und deshalb kann Peking nicht zulassen, dass dieser Krieg abebbt. Wenn er in der Ukraine nachlässt, wird Russland anderswo angreifen müssen.
Dem Erdboden gleich
Ich stehe auf den Ruinen eines ehemaligen Gymnasiums für begabte Kinder. Jetzt ist es eine Art Denkmal für die von Russland praktizierte «Entmilitarisierung» und «Entnazifizierung». Am 4. Juli 2022 machte Russland diese leerstehende Schule mit Raketen dem Erdboden gleich. Ich weiss mit Sicherheit, dass das Gebäude leer war, denn meine Tochter wohnt im Nachbarhaus. Aber warum die Schule nicht zerstören, müssen die Russen sich gedacht haben – nur für den Fall, dass sich Soldaten darin versteckt hielten.
Da, wo früher die Bibliothek war, erhebt sich ein kleiner Berg, bestehend aus Betontrümmern, Möbelteilen und Schulbüchern. Die meisten von ihnen wurden 2021 veröffentlicht. Mit Ausnahme der ukrainischen Sprach- und Literaturbücher sind sie alle auf Russisch. Sie sind alle auf hochwertigem Papier gedruckt und trotz Regen und Schnee gut erhalten. Heute, im Jahr 2025, scheint es unglaublich, dass es jemals Schulbücher in russischer Sprache gegeben hat.
Eine russischsprachige Fibel für die neunte Klasse ragt unter einem kaputten Schreibtisch hervor – ein Lehrbuch der russischen Sprache. Es ist so tot wie ein Ammonit. Ich schlage es auf, und es beginnt mit einem Bibelzitat über Babylon und wie Gott die Menschheit in viele Sprachen zerstreut hat.
So also ist die «Entnazifizierung» und «Entmilitarisierung» herausgekommen. Dies hier ist alles, was von der russischen Welt in der Ukraine geblieben ist, ein perfektes Symbol: ein Schutthaufen aus Büchern und Beton.
Sergei Gerasimow lebt als Schriftsteller in der Grossstadt Charkiw, die nach wie vor von den Russen beschossen wird. – Aus dem Englischen von A. Bn.