Eine Protest- und Streikwelle nach der anderen überrollt Deutschland. Von den Arbeitskämpfen sind derzeit vor allem Verkehrsbetriebe betroffen. Dabei wurde vor den Arbeitsniederlegungen teilweise kaum verhandelt. Das ist falsch, denn Streiks sollten die Ultima Ratio sein.
Sie lesen einen Auszug aus dem Newsletter «Der andere Blick», heute von Michael Rasch, Wirtschaftskorrespondent der «Neuen Zürcher Zeitung» in Frankfurt am Main. Abonnieren Sie den Newsletter kostenlos. Nicht in Deutschland wohnhaft? Hier profitieren.
Gewerkschaften haben auch in der heutigen Gesellschaft noch immer eine wichtige Rolle. Ohne die Bündelung der Arbeitnehmerinteressen würden Arbeitgeber wohl zu sehr dazu neigen, Gewinne als Investitionen oder Ausschüttungen an die Gesellschafter zu verwenden, wobei man bei der Führungsriege nicht selten weniger sparsam ist als beim gemeinen Arbeitnehmer. Deshalb sollte man Streiks mit einer gewissen Gelassenheit nehmen, wenngleich das Auftreten und die Verbalinjurien des GDL-Königs Claus Weselsky nur schwer zu ertragen sind.
Streik suchende Gewerkschaften
Derzeit laufen jedoch Protest- und Streikwellen durch Deutschland, wie man sie wohl seit Jahrzehnten nicht gesehen hat. Bauern und Brummifahrer blockieren mit ihren monströsen Vehikeln Strassen und Städte, und die Lokführer-Kleingewerkschaft GDL setzt gleich für fast eine Woche zum Streik an. Richard Giesen, der geschäftsführende Direktor des Zentrums für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht, warf dem GDL-Chef Weselsky daher jüngst in der «FAZ» vor, sich quasi von der AfD inspirieren zu lassen: Mittels Fundamentalopposition und eskalierender Streiks sollten Mitglieder gewonnen werden; man spreche vom «Organisieren im Konflikt».
Kaum hat sich die GDL nun dazu herabgelassen, für einmal wirklich zu verhandeln, ruft die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi für Donnerstag das Sicherheitspersonal an grossen Flughäfen und für Freitag die Beschäftigten der kommunalen Nahverkehrsbetriebe zum Warnstreik auf. Das dürfte zu zahlreichen Flugausfällen sowie zu massiven Behinderungen für den Regionalverkehr und viele Pendler führen. Am Ende der Woche wollen zudem Piloten und weitere Crewmitglieder der Lufthansa-Ferienflugtochter Discover Airlines streiken. Arbeitsniederlegungen bei der Infrastruktur tun den Bürgern besonders weh und sind daher in vielen Ländern ein beliebtes Ziel der Streik suchenden Gewerkschaften.
Die Vehemenz der derzeitigen Konflikte hat zahlreiche Ursachen. Das Entfallen der Beamtenstellung in manchen Berufsgruppen, etwa bei Fluglotsen und Lokführern, hat diesen einst das Streikrecht beschert. Während früher vor allem in der Industrie und im öffentlichen Dienst gestreikt wurde, trifft es heute es heute sehr oft für Arbeitskämpfe anfällige Infrastrukturanbieter wie Bahnen, Fluggesellschaften und Flughäfen.
Aufgeheizte Stimmung in Deutschland
Diese können im Vergleich mit anderen Firmen den Arbeitnehmern nicht damit drohen, ihre Angebote und Produktionsstätten in andere Länder zu verlagern. Hinzu kommen Änderungen beim Prinzip der Tarifeinheit, so dass Gewerkschaften jetzt mit Streiks und Abschlüssen hoher Löhne um Mitglieder konkurrieren, frei nach dem Motto «Wer ist der härteste Hund im Zwinger?».
Dazu kommt, dass die Stimmung im Land ohnehin aufgeheizt ist. Viele Menschen sind aus unterschiedlichen Gründen beispielsweise mit der Energie-, Subventions- oder Umweltpolitik unzufrieden, die darüber hinaus häufig mehr an eine Plan- als an eine Marktwirtschaft erinnert. Ferner wird derzeit deutlich, dass in einer Welt knapper Ressourcen nicht alle Wünsche erfüllbar sind und die Verteilungskämpfe härter werden, obwohl in Deutschland kaum etwas so kontinuierlich steigt wie die Steuereinnahmen.
Zugleich machen sich bei den Menschen die Krisen der vergangenen Jahre bemerkbar, die sich unter anderem im massiven Anstieg der Inflation zeigen. So sind die Preise zwischen Nordsee und Alpen in den vergangenen zwei Jahren um rund 14 Prozent nach oben geschossen und viele Menschen dadurch real ärmer geworden. Entsprechend verzeichnen Gewerkschaften wenig überraschend einen Zulauf wie letztmals in den 1980er Jahren. In manchen Kleinbetrieben und Startups sollen sich vermehrt Mitarbeitervertretungen gründen. Aus den Einzelfällen könnte bald ein Trend werden.
Arbeitskampf sollte Ultima Ratio sein
Den Arbeitnehmervertretern spielt zugleich der grosse Arbeits- und Fachkräftemangel in die Hände, da dieser ihre Position in Verhandlungen stärkt. Manche Gewerkschafter wollen das ausnutzen. So hatte man bei der GDL von Anfang an den Eindruck, dass es Weselsky primär auf Kampf, Krawall und Streik angelegt hat. Auch bei Verdi kommt es nun teilweise nach nur einer Verhandlungsrunde bereits zu Streiks. Das ist beschämend.
Dieser Weg ist ein Irrweg. Arbeitskämpfe sollten stets eine gewisse Verhältnismässigkeit aufweisen und die Ultima Ratio sein. Kooperative Lohnverhandlungen waren immer eine Stärke Deutschlands. Wenn Gewerkschaftsführer von diesem Prinzip abweichen, müssen sie sich nicht über Rufe zur Einschränkung des Streikrechts wundern. Diese sind jüngst mit der Forderung nach verbindlichen Schlichtungsverfahren und einer Mindestwarnzeit vor Streikbeginn in gewissen Branchen bereits lauter geworden. Sollten ausser Kontrolle geratene Gewerkschaftsführer wie Weselsky zur Regel werden, kommt der Gesetzgeber letztlich nicht darum herum, die Regeln des Streikrechts neu zu justieren.
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