Es habe Probleme mit Antisemitismus gegeben in Harvard, erklärt die jüdische Forscherin Naomi Oreskes. Die Angriffe der amerikanischen Regierung auf die Universität seien jedoch politisch motiviert.
Die amerikanische Regierung erhöht den Druck auf die Harvard University. Sie droht, weitere Fördermittel zu kappen, wenn die Hochschule der Forderung nach «verantwortungsvoller Führung» nicht nachkomme. Unter anderem habe Harvard im Umgang mit Antisemitismus versagt.
An der renommierten Universität lehrt auch die jüdische Wissenschaftshistorikerin Naomi Oreskes. Sie forscht zum Einfluss von Lobbygruppen auf Gesundheits- und Umweltthemen. Bekannt wurde sie mit dem Buch «Merchants of Doubt», in dem sie mit dem Co-Autor Erik Conway nachwies, wie die Erdölindustrie Zweifel am Klimawandel säte. Auf Einladung des Collegium Helveticum, eines Instituts der ETH, der Universität Zürich und der Zürcher Hochschule der Künste, war Oreskes diese Woche in Zürich zu Gast.
Frau Oreskes, in Ihrem neusten Buch «The Big Myth» nehmen Sie den freien Markt ins Visier. Dabei hat dieser bei einer Erfolgsgeschichte, die Sie selber oft erzählen, eine entscheidende Rolle gespielt: Mitte der 1980er Jahre brachen die Verkäufe von Haarsprays und Deodorants mit FCKW ein – jenen chemischen Substanzen, die das Ozonloch verursacht haben. Das zwang die Unternehmen, andere Produkte zu entwickeln. Was spricht gegen den freien Markt?
Ich bin nicht gegen Märkte, sondern gegen den Mythos, dass der freie Markt weise und effektiv sei und alles richtig mache. Der Ozon-Fall ist ein wunderbares Beispiel. Denn ja, Sie haben recht, die Konsumenten begannen zu reagieren, als sie gut informiert waren. Aber selbst das reichte nicht aus. Man brauchte immer noch ein internationales Abkommen, um diese Chemikalien abzuschaffen. Aber es zeigt, dass die Konsumenten durchaus Einfluss haben, wenn sie gut informiert sind. Beim Klimawandel ist dies anders. Hier haben Ölkonzerne Jahrzehnte damit verbracht, dafür zu sorgen, dass wir keine guten Informationen haben. Sie haben uns mit irreführendem Marketing und offensichtlichen Unwahrheiten bombardiert.
Und deshalb gibt es auch heute noch immer Menschen, die am menschengemachten Klimawandel zweifeln?
Absolut, die Erdölindustrie hat dieses Narrativ des Zweifels verbreitet. Dabei sind sich Forscher seit den frühen 1990er Jahren weitgehend einig, dass der Klimawandel im Gange ist und durch menschliche Aktivitäten verursacht wird.
Wie gingen die Firmen dabei vor?
Der Klimawissenschafter James Hansen erklärte dem US-Kongress 1988, dass es den Klimawandel gebe. Schon im folgenden Jahr begannen die Ölkonzerne damit, sich zu mobilisieren. Sie gründeten Denkfabriken, um die Idee zu verbreiten, dass in der Wissenschaft keine einhellige Meinung zum Klimawandel bestehe. Und sie arbeiteten mit Wirtschaftsverbänden wie dem American Petroleum Institute zusammen. Ein Grossteil der schmutzigen Arbeit erledigte nicht die Industrie, sondern diese Verbündeten.
Geschieht dies auch noch heute?
Ja, allerdings in anderen Formen. Wir haben festgestellt, dass diese Akteure in den traditionellen Medien nicht mehr so aggressiv auftreten, dafür in den sozialen Netzwerken. Dort wird der Klimawandel noch immer offen geleugnet. Wir sehen eine Fortsetzung der gleichen Muster, die wir schon in unserem Buch «Merchants of Doubt» dokumentiert haben. Manchmal sind wir uns jedoch nicht sicher, ob die Posts von normalen Bürgern oder von Bots stammen.
Die Klimaforschung ist auch in den Fokus von US-Präsident Donald Trump geraten. Bei der Nationalen Ozean- und Atmosphärenbehörde (NOAA) entliess er 20 Prozent der Mitarbeiter. Aber auch in anderen Forschungsbereichen sieht er massive Kürzungen vor. Was geschieht derzeit mit der Wissenschaft in Ihrem Land?
Es ist ein Versuch, das staatliche Engagement für die Wissenschaft massiv zurückzufahren. Denn die Wissenschaft ist die Grundlage für viele der Vorschriften, die Elon Musk und seine Kumpane abschaffen wollen. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Vor der Wahl Trumps wurde in den USA zunehmend über eine Regulierung der sozialen Netzwerke gesprochen. Es war ein seltener Fall, in dem sich Republikaner und Demokraten einig waren, und es sah so aus, als würde es eine überparteiliche Einigung geben. Eines der Argumente waren die zunehmenden wissenschaftlichen Belege für die schädlichen Auswirkungen der sozialen Netzwerke auf Kinder und Jugendliche. Nun, wenn man nicht will, dass sein Geschäft reguliert wird, kann man versuchen, die Belege für dessen schädliche Wirkung zu eliminieren.
Besonders hart trifft es die Harvard University, an der Sie angestellt sind. Mehr als 2 Milliarden Dollar an staatlichen Geldern wurden bereits eingefroren. Zudem gab die Bildungsministerin Linda McMahon diese Woche bekannt, dass Harvard keine neuen Mittel mehr erhalten solle. Wie werden sich diese Massnahmen auswirken?
Zunächst einmal müssen die Gerichte darüber entscheiden. Harvard hat bereits Klage eingereicht. Vieles davon ist eindeutig rechtswidrig, denn diese Mittel wurden vom Kongress zugewiesen. Der Präsident hat nicht die rechtliche Befugnis, das Gesetz zu brechen. Er testet einfach, wie weit er damit kommt. Ich denke, einiges davon wird vor Gericht wieder rückgängig gemacht. Diese Verhandlungen werden viel Zeit in Anspruch nehmen. Einige von uns hoffen, dass sie so lange dauern, bis wir neue Wahlen haben und eine andere Regierung bekommen.
Aber was wären die Folgen all dieser Kürzungen?
Die Folgen wären enorm. Mich persönlich betrifft es nicht, denn ich werde direkt von Harvard und von verschiedenen privaten Stiftungen finanziert. Es war eine gute Entscheidung, mich nicht auf staatliche Gelder zu verlassen. Denn als jemand, der sich mit Desinformation befasst, hätte ich sie nun bestimmt verloren. Da die Medizin einen grossen Teil von Harvard ausmacht, entfällt der Löwenanteil der gestrichenen Mittel auf die medizinische Fakultät und die School of Public Health. Das ist eine grosse Ironie, denn die dortige Forschung hilft der amerikanischen Bevölkerung.
Trump hat wiederholt kritisiert, Harvard werde nicht gut geführt. Neue Berichte von Harvard selber zeigen, dass es in der Vergangenheit tatsächlich Probleme mit Antisemitismus und freier Meinungsäusserung gab.
Harvard ist nicht schlechter als andere amerikanische Universitäten. Unsere Hochschule wird nun aus politischen Gründen angegriffen, weil sie als führende Einrichtung des liberalen Mitte-links-Denkens in Amerika gilt. Jede Institution, die sich einer solchen Selbstprüfung unterzieht, würde wahrscheinlich auf etwas stossen. Laut den Berichten waren sowohl jüdische als auch muslimische Studenten der Meinung, dass es Probleme gegeben habe – insbesondere unter den Studenten selbst. Das fand ich am interessantesten, denn es stimmt mit dem überein, was ich von meinen eigenen Studenten gehört habe.
Was erzählen diese?
Die meisten Harvard-Dozenten sind sehr darauf bedacht, ein Umfeld zu schaffen, in dem man frei sprechen kann. Die Studenten fühlen sich nicht in den Klassenzimmern eingeschränkt, sondern bei den Interaktionen untereinander, in den Speisesälen und den Wohnhäusern. Es gibt eindeutig Probleme, die Universität hat dies auch zugegeben. Aber der Punkt ist: Die Trump-Regierung macht eine grosse Sache aus dem Antisemitismus. Dabei berichtet Harvard auch von Muslimfeindlichkeit. Doch die muslimischen Studenten verteidigt die Regierung nicht. Das zeigt, dass hier etwas faul ist.
Nun will der neue Harvard-Präsident Alan Garber Änderungen einführen. Die Universität soll zum Beispiel ihre Zulassungspolitik zugunsten von Studenten ändern, die zu einem offenen Austausch von Argumenten bereit sind. Was halten Sie davon?
Das klingt toll, aber ich habe keine Ahnung, wie sie das anstellen wollen. Das Ironische daran: Harvard hat jahrhundertelang Frauen ausgeschlossen, Harvard hat Schwarze ausgeschlossen, Harvard hat die meisten Juden ausgeschlossen. Vor fünfzig Jahren wäre ich in Harvard nicht eingestellt worden, als Jüdin und als Frau. Lange wurden weisse protestantische Männer gefördert – vor allem, wenn es die Söhne von Alumni waren. Und die Rechte hat sich nie darüber beschwert. Aber Harvard erkannte, dass das schlecht ist. Deshalb bemühte sich die Hochschule um Diversifizierung. Das war eine gute Sache. Könnte es sein, dass sie zu weit gegangen ist? Ja, wahrscheinlich. Dann muss man den richtigen Mittelweg finden. Wenn Harvard also zugibt, zu weit gegangen zu sein, und jetzt eine kleine Kurskorrektur vornimmt, ist das in Ordnung.
Die staatlichen Eingriffe führen dazu, dass viele Wissenschafter erwägen, die USA zu verlassen. Was bekommen Sie davon mit?
Ich kenne mehrere, die sich das überlegen. Es ist eine sehr ernste Angelegenheit. Vor allem für Studenten und Postdocs, die nicht in den USA geboren sind. Viele fühlen sich im Moment bedroht. Sie sehen, wie andere ohne ersichtlichen Grund und ohne ordentliches Verfahren ihr Visum verlieren. Man weiss nicht, wer der Nächste ist. Es ist eine besorgniserregende Zeit.
Was ist mit Ihnen?
Ich habe das bereits hinter mir. Während der Präsidentschaft von Ronald Reagan war ich in Australien, kam dann aber wieder heim. Ich bin Amerikanerin, das ist mein Land. Wenn man mich nicht zwingt, werde ich es nicht verlassen. Ich werde bleiben und für die Demokratie kämpfen.
Kann sich die amerikanische Wissenschaft irgendwann von diesen Angriffen erholen?
Ich bin Historikerin, keine Zukunftsforscherin. Aber Universitäten gibt es schon seit sehr langer Zeit. Sie sind nach der katholischen Kirche die am längsten bestehenden Institutionen der Welt. Die Universitäten werden überleben, die Wissenschaft auch. Wird Amerika weiterhin eine führende Rolle in der Welt der Wissenschaft spielen? Das ist die grosse Frage. Ich denke viel über Deutschland nach: Bis zum Zweiten Weltkrieg war Deutschland in der Wissenschaft weltweit führend. Die Amerikaner gingen nach Deutschland, um zu studieren. Das hat sich durch den Weltkrieg völlig verändert. Die deutsche Wissenschaft wurde zerstört und musste von Grund auf neu aufgebaut werden. Den USA droht wohl etwas Ähnliches. Ich hoffe nur, es wird nicht ganz so schlimm.