Manche Menschen glauben fälschlicherweise, von Käfern, Wanzen oder Milben befallen zu sein. Der Leidensdruck ist gross. Was den Betroffenen hilft, den Wahn loszuwerden.
Ada juckt es am Rücken, am Hals und um die Ohren herum. Es seien Bisse kleiner Tierchen, die auf ihrer Haut herumliefen, ist die 54 Jahre alte Putzfrau überzeugt. Sie brennt ihre Haut ab, um die Tierchen zu töten, und kämmt sich stundenlang die Haare, um sie loszuwerden. Spüle sie den Kamm aus, erzählt sie dem Arzt, sehe sie sie wie kleine Fischchen im Waschbecken herumschwimmen. Arbeiten kann sie nicht mehr, Brennen und Kämmen kostet zu viel Zeit.
Ada war die Patientin des schwedischen Neurologen Karl-Axel Ekbom, der 1938 detailliert ihre Krankheit beschrieben hat. Er nannte sie Dermatozoenwahn. Die Betroffenen sind fälschlicherweise davon überzeugt, von Käfern, Wanzen, Würmern, Milben, Bakterien, Pilzen oder anderen Krankheitserregern befallen zu sein. Sie spüren Juckreiz, Stechen oder Kribbeln auf der Haut, so als liefen Tierchen auf ihnen herum, die sie dann auch beissen würden.
Fehlfunktion des Dopaminsystems
Gemäss Studien leiden nur einige Dutzend von 100 000 Menschen unter Dermatozoenwahn. «Es könnten aber mehr sein, weil die Betroffenen von einem Hautarzt zum anderen gehen und nicht wahrhaben wollen, dass sie ein psychisches Problem haben, und es dann nicht als solches erfasst wird», sagt Peter Falkai, Direktor der Psychiatrie in der Ludwig-Maximilians-Universität in München.
Eine Theorie ist, dass der Wahn wegen eines erhöhten Dopaminspiegels im Hirn entsteht. Dafür spricht, dass sich die Symptome manchmal mit Medikamenten bessern, die Dopamin blockieren. «Die Fehlfunktion des Dopaminsystems führt vermutlich dazu, dass der Patient Hautjucken oder abgeschilferte Hautzellen, was jeder einmal hat, überinterpretiert und es für Tiergekrabbel hält», sagt Falkai.
Auf den ersten Blick falle nicht auf, dass ein psychisches Problem vorliege, sagt Peter Schmid-Grendelmeier, Leitender Allergologe im Universitätsspital Zürich. Er sieht in seiner Sprechstunde pro Jahr drei bis fünf Patienten mit Dermatozoenwahn. «Sie beschreiben ihren Juckreiz wie andere Patienten auch, und man denkt sich auch erst nichts dabei, dass die Haut aufgekratzt ist, denn das ist bei anderen juckenden Hautkrankheiten auch so.» Stutzig werde er dann, wenn die Patienten ihm «Tierchen» beschrieben. «Meist schildern sie so genau wie in einem Biologiebuch, wie sie aussehen, wie sie in die Haut beissen, Nester bauen und sich vermehren.» Als «Beweis» bringen sie dem Arzt getötete Tierchen in Plastiksäckchen oder Streichholzschachteln mit, was aber in Wirklichkeit nur Dreck, Staub oder Haare sind.
Manchmal sind auf der Haut ein Ausschlag zu sehen oder Narben, wenn die Betroffenen versucht haben, durch Kratzen, mit Messern, Feuer oder anderen Geräten die Organismen zu entfernen. Klare Zeichen für «echte» Erreger – etwa rosafarbene Flecken, die typisch wären für Stiche von Mücken oder Flöhen oder für Bisse von Bettwanzen – sind nicht zu erkennen. Die Situation sei dann nicht einfach, sagt Schmid-Grendelmeier. «Die Patienten waren oft schon bei Kollegen und sind frustriert, weil keiner ihnen geglaubt hat. Es braucht viel Fingerspitzengefühl, um ihnen zu erklären, dass es womöglich an einer Wahrnehmungsstörung im Gehirn liegt und ein Psychiater gut helfen könnte.»
Zunächst muss sorgfältig ausgeschlossen werden, dass es nicht doch Parasiten sind, etwa Krätzmilben oder Läuse, oder dass der Patient eine andere Krankheit hat, die mit Juckreiz oder Hautausschlag einhergeht wie Neurodermitis, Syphilis, HIV, chronische Leber- und Nierenkrankheiten oder Tumore. Und es muss abgeklärt werden, ob der Wahn als Folge einer anderen Krankheit aufgetreten ist, beispielsweise Depressionen, Angststörungen, Schizophrenie, neurologische oder Stoffwechselkrankheiten, Vitaminmangel oder Hormonstörungen. Ebenso können Medikamente als Nebenwirkung so einen Wahn auslösen – und auch Drogen wie Crystal Meth oder Kokain.
Realität zulassen
Mit Antipsychotika, die auch gegen Schizophrenie eingesetzt werden, werden die Wahnvorstellungen weniger und können sogar ganz verschwinden. Empfohlen wird eine Kombination aus Medikamenten und Psychotherapie. «Die Patienten lehnen das aber oft erst einmal ab», erzählt Christian Huber, Chefarzt in den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. «Ich versuche dann, sie mit ihrem Leiden ernst zu nehmen, eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung aufzubauen und gemeinsam zu überlegen, wie wir vorgehen. Nur wenn der Patient das Vorgehen akzeptiert, kann es gelingen, den Wahn zu reduzieren oder ganz loszuwerden.»
Janina Rogoll, Psychotherapeutin in Berlin, behandelt pro Jahr zwei bis drei Patienten mit Dermatozoenwahn. Die Verhaltenstherapie basiert auf Logik und Realität. Ist ein Patient beispielsweise überzeugt, die Tierchen würden durch seine Haut in ihn hineinkrabbeln, klärt Rogoll ihn auf, dass die Parasiten viel zu gross seien, als dass sie durch die Haut kämen. Oder sie sagt ihm, dass das Gefühl auf der Haut sicherlich sehr unangenehm sei, dass sie aber keine Parasiten sehe und der Dermatologe keinerlei Erreger nachgewiesen habe.
Muss sich ein Patient mehrmals am Tag intensiv reinigen oder gar seine Haut verletzen, um die Tiere unter Kontrolle zu halten, erarbeitet sie mit ihm Techniken, wie er von dem selbstschädigenden Verhalten loskommt. «Die Behandlung ist sehr individuell, je nachdem, wie viel Realität der Betroffene zulässt», sagt sie. «Es gibt kein Pauschalrezept.»
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»