Mit einem neuen Straftatbestand sollen Kinder und Jugendliche besser vor manipulativem Missbrauch geschützt werden. Doch juristisch gesehen sind solche Straftaten schwerer fassbar, als es auf den ersten Blick erscheint.
Der digitale Albtraum beginnt oft harmlos, mit einem netten Chat auf Instagram oder einer unauffälligen «Minecraft»-Spielrunde. Erwachsene (meist Männer) nutzen das Internet, um unter falscher Identität und Altersangabe Kontakt zu Kindern und Jugendlichen aufzubauen. Durch gezielte Manipulation gewinnen sie das Vertrauen ihrer Opfer, intensivieren den Austausch und bahnen so sexuelle Übergriffe an.
Cyber-Grooming nennt sich diese Methode, die in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit erhalten hat. Der Begriff stammt aus dem Englischen: «To groom» bedeutet vorbereiten, zurechtmachen, striegeln. Laut der James-Studie von 2022, die das Medienverhalten junger Menschen untersucht, berichteten 47 Prozent der 12- bis 19-Jährigen, online bereits mit unerwünschten sexuellen Absichten kontaktiert worden zu sein.
Eine deutsche Studie von 2024 ergab, dass jedes vierte Kind oder jeder vierte Jugendliche im Alter von 7 bis 18 Jahren bereits persönlich von Cyber-Grooming betroffen war. Und eine Erhebung von Kinderschutz Schweiz zeigt, dass 14 Prozent aller Kinder und Jugendlichen über ihr Handy Nacktbilder erhalten haben.
Mehr Pädophilen-Verdachtsfälle
Generell gilt, dass Opfer von Cyber-Sexualdelikten in drei Vierteln der Fälle unter 18 Jahre alt sind – meist sind es minderjährige Mädchen. Das heisst es in einem Bericht des Bundesrates von 2023. Die Täter sind häufig erwachsene Männer, die sich im Netz als Gleichaltrige ausgeben. Auch andere Zahlen stützen dieses Bild: Das Bundesamt für Polizei (Fedpol) meldete 2022 doppelt so viele Pädophilen-Verdachtsfälle an die Kantone wie im Jahr zuvor, oft aufgrund von Internet-Hinweisen aus den USA.
Die Politik diskutiert deshalb seit langem über eine Verschärfung des Strafrechts. Letzte Woche behandelte die Rechtskommission des Nationalrats erneut eine parlamentarische Initiative gegen Cyber-Grooming, die schon 2018 von Viola Amherd eingebracht worden war – noch bevor sie zur Bundesrätin gewählt wurde.
Doch trotz ausgiebiger Debatte gibt es bis jetzt keine Entscheidung. Im Gegenteil: Vor zwei Jahren verzichtete das Parlament auf einen fast pfannenfertigen Vorschlag. Nach weiteren Abklärungen habe die Rechtskommission jetzt «konkrete Anregungen» erhalten, aber gleichzeitig zur Kenntnis genommen, dass ihre Gesetzespläne teilweise kritisch gesehen würden. Das schreibt sie in einer Medienmitteilung.
Verschiedene Formen von Grooming
Tatsächlich liegen der Kommission inzwischen mindestens drei Vorschläge für eine neue Cyber-Grooming-Strafnorm vor – dies ist Ausdruck dafür, wie schwer das Phänomen rechtlich zu fassen ist. Es umfasst ein breites Spektrum an Handlungen, von der ersten Kontaktaufnahme über den manipulativen Vertrauensaufbau bis hin zur Vereinbarung eines Treffens. Auch die Formen von Cyber-Grooming variieren.
Manche Täter zielen auf einen sexuellen Missbrauch in direkter Begegnung ab, andere beschränken sich auf den Austausch von Texten und Bildern, ohne ein Treffen anzustreben. Doch genau dies macht es so schwierig, strafbares von straffreiem Verhalten trennscharf zu unterscheiden.
So kritisiert die Schweizerische Staatsanwaltschaftskonferenz (SSK) in einem Arbeitspapier den früheren Entwurf aus dem Parlament, der Cyber-Grooming als Vorbereitung für sexuelle Handlungen mit Kindern oder für harte Pornografie definiert. Dieses Vorgehen lasse viele Probleme ungelöst.
So bleiben laut SSK Fälle unberücksichtigt, in denen die Täter ausschliesslich über Texte und Bilder sexuelle Befriedigung suchten. Zahlen von Kinderschutz Schweiz deuten jedoch darauf hin, dass dies häufig vorkommt: 20 Prozent der betroffenen Kinder und Jugendlichen gaben an, für den Versand von Fotos oder Videos eine Gegenleistung versprochen bekommen zu haben.
Harmlose Chats plötzlich strafbar?
Die SSK will deshalb deutlich weitergehen: Strafbar soll sein, «wer mit einem Kind unter 16 Jahren kommuniziert, um es als Objekt sexueller Erregung zu benutzen». Eine so breit gefasste Formulierung dürfte allerdings bei vielen Strafrechtsexpertinnen und -experten auf rechtsstaatliche Bedenken stossen.
Theoretisch könnte damit selbst ein zunächst harmloser und offen geführter Chat strafbar werden. Dies, wenn die erwachsene Person damit eine sexuelle Erregung zu einem möglicherweise weit in der Ferne liegenden Zeitpunkt im Auge hat, zu der es nicht einmal kommen muss. Ganz abgesehen von der schwierigen Beweisbarkeit: So bleibt nur noch ein kleiner Schritt zu einem Strafrecht, das mangels einer nachweisbaren Tathandlung auf die innere Haltung und die Absicht des Beschuldigten abzielt.
Und es stellen sich weitere wichtige Fragen: Falls Cyber-Grooming nur auf Antrag verfolgt würde, wie dies teilweise befürwortet wird, entspräche dies zwar einem je nach Handlung vergleichsweise geringen Unrechtsgehalt. Die Staatsanwaltschaften argumentieren jedoch, dass ein reines Antragsdelikt nicht genüge.
Strafjustiz klagt über Überlastung
Es versage beispielsweise, wenn sich im Verlauf von Ermittlungen herausstelle, dass von einer Cyber-Grooming-Attacke mehrere Kinder oder Jugendliche betroffen seien, die selber aber keine Anzeige erstattet hätten. Solche Beispiele zeigen: Eine Strafnorm, die nicht präzise genug formuliert ist, bleibt wirkungslos – und dies, obwohl sie für die Strafverfolgungsbehörden einen grossen Aufwand bedeutet.
Genau damit rechnet die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD). Sie spricht sich grundsätzlich gegen eine Cyber-Groomig-Strafnorm aus. Sie befürchtet erhebliche Abgrenzungsprobleme und deshalb Mehraufwand. Das könne sich die Strafjustiz aber nicht leisten. Schon heute könne sie die steigenden Fallzahlen kaum mehr bewältigen.
Die Schaffung immer neuer Straftatbestände ist laut KKJPD ein Grund dafür: Allein in den letzten fünfzehn Jahren sei das Strafrecht 60-mal und das Strafprozessrecht 34-mal geändert worden. Die KKJPD bestreitet im konkreten Fall zudem, dass es eine neue Norm tatsächlich brauche. Schon heute sei das Verhalten strafbar. Schliesslich werde Cyber-Grooming regelmässig als Versuch zu einer sexuellen Handlung mit Kindern bestraft. Kurz: viel Aufwand für eine geringe Wirkung.
Ein Bericht des Bundesrats von 2023 zielt in eine ähnliche Richtung. Das Hauptproblem sei nicht die ungenügende Gesetzeslage, sondern die schwierigen Ermittlungen im Alltag: Die Täter bleiben oft anonym, Beweise liegen im Ausland, was die Beweiserhebung schwierig bis unmöglich macht. Die Kantone müssten besser zusammenarbeiten, was mehr Kompetenzen beim Datenaustausch erfordere. Auch solche Probleme sind der Politik bekannt: Ein Projekt für einen effektiveren Informationsaustausch zwischen den Kantonen befindet sich schon seit Jahren in der Pipeline. Doch die Umsetzung ist bis heute nicht gelungen.