Deutschland droht laut manchen Prognosen ein drittes Rezessionsjahr. Vor diesem Hintergrund fordern die Unternehmer von der nächsten Regierung eine «Wirtschaftswende». Am Mittwoch griffen sie sogar zu Trillerpfeife und Rassel.
Am Brandenburger Tor in Berlin wird fast täglich demonstriert. Oft sind es versprengte Grüppchen, hie und da über hunderttausend Menschen, die für unterschiedlichste Anliegen auf die Strasse gehen. Dass Unternehmer und Vertreter von Wirtschaftsverbänden wie an diesem windigen Mittwochnachmittag Plakätchen schwenken oder mit Trillerpfeifen und Rasseln Redner unterstützen, ist allerdings selbst am Brandenburger Tor ein ungewöhnliches Bild.
Eine Brandrede als Premiere
Er hätte nie gedacht, dass er je vor dem Brandenburger Tor stehen und eine Brandrede halten müsse, sagte Wolfgang Schubert-Raab, Präsident des Baugewerbeverbands ZDB, einer der Redner.
Die Aktion lockte eine wohl dreistellige Zahl Menschen an (laut den Veranstaltern sogar über tausend), unter ihnen auch einige Gegendemonstranten. Sie war Teil eines bundesweiten «Wirtschaftswarntags» mit weiteren Veranstaltungen unter anderem in Hamburg, München und Stuttgart. Die Unternehmer wollten damit «auf die dramatische Lage der deutschen Wirtschaft aufmerksam machen und Druck auf die nächste Bundesregierung ausüben, sofort Reformen zu starten».
Organisiert wurde die Aktion vom Verband Die Familienunternehmer, dem Gesamtverband der deutschen Textil- und Modeindustrie, und dem Bundesverband Grosshandel, Aussenhandel, Dienstleistungen in Zusammenarbeit mit der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Unterstützt wurde sie laut den Veranstaltern von 140 Verbänden, vornehmlich kleineren Branchenverbänden, und Hunderten von Unternehmen, darunter viele KMU.
Lähmende Bürokratie
Die Verbände fordern von der nächsten Bundesregierung eine «Wirtschaftswende», die aus ihrer Sicht zehn Punkte umfassen sollte. An erster Stelle nennen sie einen Bürokratieabbau. Die deutsche und europäische Bürokratie werden inzwischen in Umfragen häufig als grösstes Hindernis für wirtschaftliche Aktivitäten genannt, keine Partei kommt ohne das Versprechen Bürokratieabbau aus. Meist bleibt es allerdings im Vagen, wie das genau geschehen soll, und zahlreiche bisherige Anläufe brachten nur wenig Erfolg.
Zu den weiteren Forderungen zählt eine Senkung der Steuern für Unternehmen und Arbeitnehmer «mindestens auf den EU-Durchschnitt», die Rückkehr zu einer Obergrenze der Sozialabgaben von 40 Prozent des Bruttolohns und «international wettbewerbsfähige Energiepreise». Die Klimapolitik solle sich auf den EU-Emissionshandel als zentrales Instrument konzentrieren und die Einnahmen daraus vollständig an die Bürger und Unternehmen zurückgeben, heisst es weiter.
Um Spielräume für mehr Infrastrukturausgaben und zugleich Steuersenkungen zu schaffen, müssten die Staatsaufgaben «neu priorisiert werden», fordern die Verbände. EU und Euro müssten als Garanten für den deutschen Wohlstand erhalten bleiben, aber die EU-Institutionen und -Zuständigkeiten bedürften einer Überprüfung.
Der Aufruf richte sich an alle Parteien, man sei parteipolitisch neutral, aber nicht politisch neutral, sagte der INSM-Geschäftsführer Thorsten Alsleben vor dem Brandenburger Tor. Zugleich richte man sich gegen jede Form von Ausgrenzung, Rassismus und Antisemitismus. Kritisiert wurden von den Rednern vor allem die SPD und die Grünen. Der grüne Wirtschaftsminister und Kanzlerkandidat Robert Habeck habe gezeigt, dass er keine Wirtschaftskompetenz habe, sagte zum Beispiel Marie-Christine Ostermann, Präsidentin der Familienunternehmer.
Deutlich mehr Sympathie klang für die konservativen Unionsparteien CDU/CSU und die liberale FDP an. Eine Reihe von Vertretern dieser beiden Parteien mischten sich denn auch unter das Publikum, unter ihnen der FDP-Chef Christian Lindner und Julia Klöckner, die wirtschaftspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Als Zuhörer eingeladen hatten die Organisatoren nach eigenen Angaben auch Bundestagsabgeordnete der SPD und der Grünen, gesichtet wurde aber nur «schwarz-gelb».
Habeck korrigiert Prognose
Die Ausgangslage vor der Bundestagswahl vom 23. Februar ist in der Tat wenig rosig. Gemessen am Bruttoinlandprodukt (BIP) ist die deutsche Wirtschaftsleistung 2023 und 2024 zwei Jahre in Folge leicht gesunken. Die Schwierigkeiten haben aber nicht erst unter der Ampelregierung begonnen, vielmehr stagniert die Wirtschaft schon seit Jahren: Gegenüber 2019, dem letzten Jahr vor Ausbruch der Corona-Pandemie, ist das BIP in Deutschland lediglich um 0,3 Prozent gewachsen. Damit fällt die grösste Volkswirtschaft Europas immer mehr hinter andere Industriestaaten zurück.
Besserung ist kurzfristig nicht in Sicht. Zeitgleich zur Demo am Brandenburger Tor präsentierte Habeck knapp zwei Kilometer entfernt den jüngsten Jahreswirtschaftsbericht. Dieser geht für das laufende Jahr nur noch von einem anämischen realen BIP-Wachstum von 0,3 Prozent aus. Noch letzten Herbst hatte die Bundesregierung ein Plus von 1,1 Prozent erwartet. Damals setzte sie auf positive Auswirkungen der im Sommer 2024 angekündigten Wachstumsinitiative, die aber wegen des Bruchs der Koalition grösstenteils nicht umgesetzt worden ist.
Pessimistische Industrie
Noch pessimistischer ist der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI): Er erwartet für das laufende Jahr eine erneute Schrumpfung der Wirtschaftsleistung, diesmal um 0,1 Prozent. Sollten die USA neue Zölle einführen, könnte das Minus sogar fast o,5 Prozent erreichen. Die Lage sei kritisch, die Stimmung miserabel, sagte der neue BDI-Präsident Peter Leibinger, im Hauptberuf Aufsichtsratsvorsitzender des süddeutschen Maschinenbauers Trumpf, an einer Pressekonferenz am Dienstag. Persönlich könne er sich an keine andere derart schwierige Situation erinnern.
Am Wirtschaftswarntag nahm der BDI nicht teil, doch hat er gemeinsam mit den anderen drei Wirtschaftsspitzenverbänden BDA (Arbeitgeberdachverband), DIHK (Industrie- und Handelskammer) und ZDH (Zentralverband des Deutschen Handwerks) am Mittwoch ein eigenes Positionspapier mit ähnlichen Forderungen veröffentlicht: Bürokratieabbau, Senkung der Steuern und Abgaben, wettbewerbsfähige Preise und Planungssicherheit für Energie, Bekämpfung des Fachkräftemangels.
Die vier Verbände beklagen sich, sie hätten der Politik zahlreiche Vorschläge unterbreitet, um das unternehmerische Fundament Deutschlands zu stärken, passiert sei aber wenig: «Die scheidende Bundesregierung hat teilweise abgewiegelt, die Lage der Unternehmen falsch bewertet und in Einzelfällen viel zu optimistisch ein ‹grünes Wirtschaftswunder› prognostiziert.»
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