Seit dem Schüler-Lehrer-Roman «Reise ans Ende des Frühlings» und dem Partisanenroman «Menuett für Gitarre (zu 25 Schuss)» gilt der Slowene Vitomil Zupan (1914–1987) als vulkanischer Geheimtipp. Auch «Levitan» fordert uneingeschränkte Bewunderung.
Giacomo Casanova kommt Vitomil Zupans Erzähler in diesem Buch einige Male in den Sinn, aber für den slowenischen Homme à Femmes, den Bohémien, Seefahrer, Parteischreck, Schriftsteller, Berufsboxer, Partisan – ach, um es kurz zu machen: für diesen einzigartigen Ausbund an Virilität, Lebenslust und künstlerischer Produktivität kann der Italiener kein Vorbild sein. Denn Casanova war – gut so! – «ein regelrechter Enthusiast des weiblichen Genitals», aber die Frauen wusste er nur auf so kostspielige Art loszuwerden, dass er darüber verarmte.
Nichts für Zupans Erzähler. Er sitzt zwar für einige Zeit im Gefängnis und müsste sich, so meint man als naiver Leser, doch eigentlich wenig Sorgen über lästig anhängliche Frauen machen. Aber Jakob Levitan ist eben ein höchst ungewöhnlicher Häftling, und sein Motto ist ebenso ausserordentlich: «Wahrscheinlich muss man leben wie das Gras. Das Gras wird geil, wenn der Wind geht.» Also fast immer.
Böser Scherz mit Tito
«Levitan. Ein Roman – oder auch keiner», kraftvoll zupackend übersetzt von Erwin Köstler, ist das dritte auf Deutsch lieferbare Buch des vulkanischen Geheimtipps Vitomil Zupan. Nach dem fiebrig-intensiven Schüler-Lehrer-Roman «Reise ans Ende des Frühlings» und dem staunen machenden Partisanenroman «Menuett für Gitarre (zu 25 Schuss)» erzählt «Levitan» von Jahren im Gefängnis.
Zupan hatte sich mit Freunden Scherze auf Kosten der Kommunistischen Partei erlaubt. Das Fass zum Überlaufen brachte wohl die 1948 von ihnen telefonisch einem hohen Genossen mitgeteilte Nachricht, gemäss einem Bericht des Schweizer Radios sei Tito, siegreicher Partisanenführer, Staatspräsident Jugoslawiens und politischer Fast-schon-Heiliger, mit der gesamten Regierung zurückgetreten.
Die Falschmeldung stach in ein Wespennest: Tito hatte gerade mit Stalin gebrochen, und Jugoslawien war aus der Kominform ausgeschlossen worden. Die Partei zog mit sogenannten «Säuberungen» die Zügel an und richtete die berüchtigten Todesinseln für Abweichler ein. Aufrechte Kommunisten und im Kampf gestählte Partisanen standen plötzlich auf der falschen, der Stalin-Seite – sittlich wie politisch unreife Lästermäuler und Prahlhanse wie Zupan sowieso.
Sein Erzähler Levitan, dem Autor bis in Nuancen hinein ähnelnd, weshalb das Buch eben «Ein Roman – oder auch keiner» ist, fasst die Anklageschrift so zusammen: «Entsetzliche Unmoral und Perversität, versuchter Mord, versuchte Vergewaltigung und – was daraus zwingend hervorgeht – Feindpropaganda, Hochverrat und Spionage.»
Zupan, den Fotos nach zu urteilen ein gutaussehender, mit der Kamera kokettierender Stutzer mit Schnurrbart, wird 1949 zu fünfzehn, nach der Berufung zu achtzehn Jahren Haft verurteilt und von Gefängnis zu Gefängnis geschleift. Manche sind weniger arg als andere, alle sind voll. Vertreten ist die gesamte Gesellschaft: «Kominformisten» und Nazi-Kollaborateure, Weissgardisten und Partisanen, Spione, antikommunistische Widerständler, normale Kriminelle «und eine Reihe von Leuten, die tatsächlich nicht wissen, wofür man sie verurteilt hat».
Bis zur Begnadigung 1954 schreibt Zupan trotz Schreibverbot unablässig. 6000 Verse entstehen in sechs Jahren Haft, dazu Briefe, Dramen, Prosa und 3000 Seiten «philosophische Essays». Die Tinte stellt er selbst her aus Rost vom Kübel, Blut und Asche, die Manuskripte lässt er zu Büchern binden und nach draussen schmuggeln – ebenso wie sich selbst, möchte der Autor doch zumindest zuweilen auf geheimen Leseabenden auftreten.
Sammlung ungewöhnlicher Lebensgeschichten
Einige Aufzeichnungen enthält das Gefängnisbuch, das nach der Entlassung verfasst, aber erst 1982, nach dem Tod Titos, veröffentlicht werden konnte. «Levitan» ist keine Anklage und kein Bericht, sondern vor allem eine Sammlung sehr ungewöhnlicher Lebensgeschichten. Jakob Levitan entwirft eine Anthropologie voller überraschender Wendungen, Geistesblitze und wunderbarer Witze.
Als «Portal» in das Seelenleben dient ihm der Sexualtrieb, denn bis auf wenige Ausnahmen interessiert alle Häftlinge brennend der unmöglich gewordene Koitus. Ärger als sie, so glauben sie nur zu gern, trieben es nur die inhaftierten Frauen im Nachbartrakt; dort bewahrten sich manche Wärter ihre körperliche Integrität im Angesicht der weiblichen Gefangenen nur mit knapper Not . . . Manchmal herrscht aufreizender Sichtkontakt zwischen den Männer- und den Frauentrakten, sonst wird in Gedanken alles durchgespielt, auch das «Geschlechtsleben der Wolken», auf dass hienieden ein wenig Befriedigung herausspringe.
Solch ein Gefängnisbuch gibt es – ungeachtet einiger Längen – wohl kein zweites Mal. Zumal Jakob Levitan am Ende Casanova hinter sich lässt, den Sexualtrieb nun als Portal ins Menschheitswissen nutzt und als pfiffiger Universalgelehrter alles von der Logik über die Anatomie der Gefühle bis zu Physik und altchinesischer Philosophie, nicht zu vergessen Karate und Yoga, in Büchern zusammenfasst, umnebelt vom Gestank des Kübels neben dem Schreibtisch.
Spätestens hier erweist sich die Skepsis, wie stets bei Zupans Fabulierkunst, als nicht die schlechteste Lektürebegleiterin – steigert sie doch das Vergnügen und regt zur Analyse des so prallen wie gerissenen Erzählens an. Auch wenn sie zu guter Letzt das Feld für die uneingeschränkte Bewunderung räumt.
Vitomil Zupan: Levitan. Ein Roman – oder auch keiner. Aus dem Slowenischen übersetzt, mit Anmerkungen und mit einem Nachwort versehen von Erwin Köstler. Guggolz-Verlag, Berlin 2024. 488 S., Fr. 41.90.