Die in Rumänien geborene und als Kind nach Deutschland emigrierte Schriftstellerin Iris Wolff hat einen berührenden Roman über zwei Menschen geschrieben, die aufbrechen und nirgendwo mehr ankommen können.
Wie unterschiedlich reagieren Menschen darauf, wenn ihnen historische Zäsuren und gesellschaftliche Umstürze zusetzen? Was tun sie, wenn sie vor die Entscheidung gestellt werden, ihr Herkunftsland zu verlassen oder zu verharren, selbst wenn die Zukunft dort nichts Erfreuliches verspricht? Die 1977 als Tochter eines Pfarrers im rumänischen Siebenbürgen geborene und heute in Freiburg im Breisgau lebende Schriftstellerin Iris Wolff hat ihre Heimat bereits als Achtjährige verlassen.
Dennoch oder vielleicht gerade weil sie so früh das Herkunftsland verlassen hat, kommt sie nicht los davon. Immer aufs Neue tastet sie sich erzählerisch so behutsam wie eindringlich an ihre geografischen und emotionalen Wurzeln heran und entwirft als literarische Imagination jene Gegend, die sie als Kind verlassen musste.
Ihren Durchbruch erlebte die Autorin 2017 mit dem – noch bei Otto Müller in Salzburg erschienenen – Episodenroman «So tun, als ob es regnet». Mit ihrem Wechsel in ein grösseres Haus – Klett-Cotta – und dem dort 2020 publizierten Roman «Die Unschärfe der Welt» fand sie ein breites Echo und erhielt in den letzten Jahren rund ein Dutzend renommierte Auszeichnungen.
Der Westen lockt
Wolffs Qualitäten als unaufgeregte Erzählerin, die ohne demonstrative Attitüden die Schicksale von oft randständigen Figuren heraufzubeschwören versteht, zeigten sich früh. Mehr und mehr verzichtete sie darauf, Informationen, etwa zur Geschichte Siebenbürgens, als Exkurs zu liefern. Inzwischen ist das Handeln ihrer Figuren so von deren Herkunft geleitet, dass der Leser ganz frei darin ist, seine Schlussfolgerungen über mögliche Kausalitäten selbst zu ziehen.
Ihr fünfter Roman mit dem Titel «Lichtungen» setzt in Zürich ein. Wolffs Protagonisten Kato und Lev, die beide auf die vierzig zugehen, kennen sich von Kindesbeinen an, seit sie gemeinsam im Norden Rumäniens, in der Region Maramures, aufwuchsen. Nach dem Ende der kommunistischen Regime in Osteuropa hielt es Kato zu Hause nicht mehr aus. Zusammen mit einem Abenteurer namens Tom brach sie mit dem Fahrrad in Richtung Westen auf, um dessen vielbeschworene Freiheit aus eigener Anschauung kennenzulernen. Lev hingegen vermochte diesen Schritt nicht zu tun und blieb als Sägewerkarbeiter in Rumänien.
Fünf Jahre haben sich die beiden nicht gesehen, bis Kato ihrem Jugendfreund eine Postkarte mit einem lapidaren Text schickt: «Wann kommst du?» Nun – damit beginnt der Roman – stehen sie auf der Münsterbrücke in Zürich. Die künstlerisch begabte Kato, die in einem Land Rover wohnt, verdient sich ihr Geld als Strassenmalerin und gilt als Attraktion der Zürcher Innenstadt. Lev schaut ihr bewundernd zu und versucht, mit den Gepflogenheiten der Grossstadt – etwa den Tücken eines Tramfahrscheinautomaten – zurechtzukommen.
So unterschiedlich ihre Lebenswege zuletzt verliefen, so ungebrochen ist ihre Verbundenheit. Und so bleibt offen, ob diese zarte Liebesgeschichte eine Zukunft hat. Wird Kato auch künftig von einer Metropole zur anderen reisen, oder wird sie zusammen mit Lev nach Rumänien zurückkehren, dorthin, wo vor über drei Jahrzehnten alles begann?
So erzählt Wolff von einer Beziehung, die sich im Schwebezustand befindet und die sich nicht mit wenigen Worten erklären lässt. Was Kato und Lev auch nach den Jahren der Trennung aneinander bindet, bleibt bewusst im Vagen. Es geht um unterschiedliche Lebensentwürfe, die selbst von grösster Zuneigung nicht so schnell auf einen Nenner zu bringen sind.
Iris Wolff ist eine Meisterin, wenn es darum geht, das Innenleben von Figuren schrittweise auszuleuchten und von Verletzungen oder Sehnsüchten zu erzählen, für die sich nicht leicht Worte finden lassen. «Worüber man nicht sprach, war nie geschehen», heisst es an einer Stelle, und einem solchen erzwungenen oder freiwillig gewählten Schweigen unterliegen viele der Wolffschen Figuren. Es ist eine Haltung, die während des Kommunismus eine Selbstverständlichkeit war, um sich nicht in Gefahr zu begeben: «Gut war man geworden. Im Wegsehen, Weghören. Auch: Wegdenken.»
Rückwärts erzählt
«Lichtungen» greift, um zu veranschaulichen, wodurch Kato und Lev geprägt wurden, zu einer überzeugenden Erzählkonstruktion. In neun rücklaufenden Kapiteln geht es in umgekehrter Chronologie vom Wiedersehen in Zürich zurück nach Maramures und nach Siebenbürgen, das in keinem Buch Iris Wolffs fehlen darf.
Man kennt dieses Verfahren beispielsweise aus Ilse Aichingers «Spiegelgeschichte» oder Inger-Maria Mahlkes mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten «Archipel». Für «Lichtungen» passt es ganz vorzüglich, denn es gibt der Autorin die Gelegenheit, die Erinnerungen aufzufächern, die Ursprünge der mal zarten, mal intensiven Bindung zwischen Kato und Lev zu schildern und das Politisch-Gesellschaftliche – den Terror der Securitate, das Reaktorunglück von Tschernobyl, die «Sucht» der Auswanderung aus Siebenbürgen – ohne jeglichen plakativen Gestus einzubinden.
So sehen wir, beim langsamen Rückschreiten in die Kindheit, Lev bei einer Radtour, die er zornig unternimmt, nachdem Kato ihn wegen eines anderen verlassen hat, während seiner Militärzeit und als Holzfällergehilfe. Und ganz am Ende, als Lev nach einem Unfall gelähmt im Krankenbett liegt, erfahren wir, wie er einst Kato näherkam, wie sie ihm die Hausaufgaben erläuterte und wie beide erahnten, was für eine komplizierte und ergreifende Liebe sich zwischen ihnen anbahnen würde.
Es geht in den Kapiteln, die sich wie einzelne, in sich geschlossene Geschichten lesen, um «Dunkelstellen», wo die «Erfahrung aufhörte und die Erinnerung anfing». Das Heraufbeschwören des Gestern schafft keine eindeutige Klarheit; es eröffnet Erinnerungen, die «über die Zeit verstreut sind wie Lichtungen», denen man zufällig begegnet, ohne zu wissen, «was man darin fand».
Iris Wolff vertraut mit schlafwandlerischer Sicherheit ihrem schlanken Stil, der jeder Nebenfigur – dem Grossvater Ferry, der früh nach Wien ausreiste, oder dem Waldarbeiterchef Imre, der seine Tochter in jungen Jahren verlor – Respekt zollt und Würde verleiht. Ob sie die geheimnisvoll-düstere rumänische Landschaft einfängt oder von Schwangerschaften, Verrat oder Seelenleid erzählt, nie verlässt sie ihren gleichmütigen, nicht ins Kitschige abgleitenden Erzählton, der das Unausgesprochene zwischen den Zeilen heraufbeschwört.
Diese Reise in die Vergangenheit ist – das schält sich im Lauf der Kapitel heraus – kein eskapistisches Ausweichen. Nein, «Lichtungen» ist ein hochaktuelles Buch, das anhand konkreter Lebensläufe nach Zugehörigkeit fragt, gerade an den Rändern Europas. Wie sich Ferry der «Zuteilung in Deutsch oder Rumänisch» verweigert, so sind viele seiner Weggefährten Migranten, die so viele Wurzeln besitzen, dass eine eindeutige Zuordnung absurd wäre.
«Man ist, einmal gegangen, immer ein Gehender» – diese Erkenntnis Ferrys steht über diesem brillanten Roman. Ein simples Ankommen ist nicht möglich. Das erfährt auch die Weltenbummlerin Kato. Zu gerne wüsste man, wie es mit ihr und Lev weitergeht. Vielleicht erzählt Iris Wolff, die Jongleurin vibrierender Worte, ein andermal davon.
Iris Wolff: Lichtungen. Roman. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2024. 256 S., Fr. 33.90.