Das Festival Eventi letterari Monte Verità beweist sich in seiner 13. Ausgabe als erfrischendes und abwechslungsreiches Literaturfestival. Im Zentrum stand dieses Jahr der Seelenforscher C. G. Jung.
Kann man sich dem Mythos dieses Berges heute anders annähern als mit einer Mischung aus Enthusiasmus und einem Hauch von Ironie? Hier auf dem heiligen Hügel über Ascona, wo sich vor über hundert Jahren Künstler und Lebensreformer, Anarchisten, Pazifisten, Vegetarier und Nackttänzer getroffen haben, um in ihren Licht-Luft-Hütten alternative Formen des Zusammenlebens zu erproben?
Das Schmunzeln über all die Ambivalenzen scheint Stefan Zweifel, seit 2023 künstlerischer Leiter des transdisziplinären Festivals, nicht von den Lippen weichen zu wollen. Spricht man ihn an auf die zum Teil eher irrationalen und esoterischen Schwingungen des Geistes des Monte Verità, meint er: «Unsere rationale Welt braucht den irrationalen Überschwang.» Sonst würden wir «im mechanischen Tick-Tack von Tiktok» zu Robotern.
Für die diesjährige Ausgabe hat der neugierige Vernetzer eine doppelte Klammer gefunden, die zentrale Elemente des Monte-Verità-Mythos vielseitig und spannungsvoll umspielt. Den Seelenforscher C. G. Jung, dessen 150. Geburtstag man dieses Jahr feiert, erhebt der bekennende Freudianer und Jung-Skeptiker Zweifel zu einer Art Reibungsfigur des Festivals. Tatsächlich verbrachte Jung in der nur einen Steinwurf entfernten Eranos-Stiftung, zu deren wichtigsten Mentoren er während Jahrzehnten gehörte, sehr viel Lebenszeit.
Die Erdgebundenheit des Schweizers
Das Festivalmotto «Psychogeographie» bildet die zweite Klammer – die Erkundung also des Einflusses von Landschaft und Architektur auf die eigenen Gedanken und Gefühle. C. G. Jung bietet dazu gleich eine pointierte Veranschaulichung, wenn er im Jahr 1928 schreibt: «Aus der Erdgebundenheit des Schweizers gehen sozusagen alle seine guten und schlechten Eigenschaften hervor, die Bodenständigkeit, die Beschränktheit, die Ungeistigkeit, der Sparsinn, die Gediegenheit, der Eigensinn, die Ablehnung des Fremden, das ärgerliche Schwyzerdütsch und die Unbekümmertheit oder Neutralität – politisch ausgedrückt.»
«Seele» ist denn auch das Schlüsselwort in den mehr als zwei Dutzend Veranstaltungen dieser viertägigen Erkundung von Seelenlandschaften in Literatur, Architektur, Tanz, Bild und Ton. Am berührendsten vielleicht im Altmännergespräch zwischen dem Stararchitekten Peter Zumthor und dem ungarischen Schriftsteller und Philosophen László F. Földényi. Die beiden kennen und schätzen sich seit langem, hier auf dem Monte Verità begegnen sie sich zum ersten Mal persönlich. Die beiden befragen sich bescheiden, sehr zugewandt und neugierig – vor Publikum und trotzdem ganz privat, fast intim. Auch das ist Monte Verità.
Földényi hat seine Betrachtungen zu Zumthors Bruder-Klaus-Kapelle ins Zentrum seines Buches «Lob der Melancholie» gestellt. «Dieser Autor blickt mir in die Seele», bekennt Zumthor auf der Bühne. Und er fragt: «Warum haben so viele Gebäude keine Seele?» Földényi beschreibt anschaulich, wie Häuser und Städte für ihn ein Unterbewusstsein haben und wie sein Körper in der Monotonie von Städten ganz müde und kraftlos wird.
«Können wir auch über Schönheit sprechen?», fragt Zumthor vorsichtig. «Schönheit ist für mich Ergriffenheit», meint Földényi. «Schönheit ist Utopie. Wenn ich Schönheit in der Natur erlebe, erinnert mich das an etwas Grösseres.» Was ihn an der Bruder-Klaus-Kapelle so fasziniere, sei die Tatsache, dass sie mit der Landschaft verschmelze, obwohl sie sich formal von ihrer Umgebung klar abhebe.
Peter Zumthor (links) und László F. Földényi führten zusammen ein berührendes Altmännergespräch.
Ein Strauss Eisblumen
Ambivalenzen auszuhalten gilt es auch bei der Hommage an Fleur Jaeggy, die dieses Jahr mit dem Grand Prix Literatur der Schweiz ausgezeichnet wird. Diese unvergleichliche, geheimnisvolle Autorin schwankt, wie Stefan Zweifel meint, immer zwischen Aggression und Zärtlichkeit. Und er schickt ihr «einen Strauss Eisblumen, gehaucht», nach Milano. Barbara Villiger Heilig berichtet anschaulich von dem Paradox, von dieser Autorin, die ihr privates Leben konsequent sehr bedeckt hält, mit der Recherche zu ihrer Biografie betraut worden zu sein.
Drei weitere Highlights stechen in diesem bunten Reigen hervor. Judith Schalansky («Atlas der abgelegenen Inseln») stellt Jutta Person vor, die in der Reihe Naturkunden zwei wunderbare Bände über «Esel» und «Korallen» veröffentlicht hat. Wie kann man dem Sprachlosen eine Sprache geben? Wie das Staunen versprachlichen? «Denn das rein statistische Anhäufen von Zahlen verbaut uns genau dieses Staunen», betont Schalansky. Es ist eines der erfrischendsten Gespräche des ganzen Festivals. «Wir müssen uns als Dolmetscher beweisen», sagt Jutta Person. Und Schalansky fragt direkt ins Publikum: «Haben Sie Ihren Kindern je vermittelt, was da alles blüht und singt?»
Peter Weber («Der Wettermacher») und Matteo Terzaghi liefern in ihrem Trans-Gotthard-Dialog auf Italienisch und Deutsch einen leichtfüssigen und hintersinnigen literarischen Wortwechsel über Bahnhöfe, Espresso, Hochzeitspaare vor Wasserfällen, velofressende Baustellen – und das Besichtigen des Unsichtbaren.
Der Genius Loci
Wie ein Sprach- und Begeisterungsgewitter bricht Irene Solà über den Monte Verità herein. Mit «Singe ich, tanzen die Berge» hat die 34-jährige Katalanin einen Bestseller gelandet, der bereits in über zwanzig Sprachen übersetzt worden ist. In ihrem Roman bekommen die Naturphänomene ihre eigene Perspektive und Sprache, die Wolken, der Berg, die Pilze, das ganze Wurzelgeflecht. Und wenn die Autorin das im fröhlich knackenden Katalanisch vorträgt, erinnert es an den Klang des Rätoromanischen.
Der Genius Loci ist auch mit Händen zu greifen. Wer die Gelegenheit nutzt, die traumhaft gelegene Forschungsstätte der Eranos-Stiftung mit ihrem Gasthaus direkt am Ufer des Lago Maggiore zu besichtigen, mit diesem unglaublichen und durch nichts gestörten Blick auf die Brissago-Inseln, erlebt ein Tessin wie vor hundert Jahren.
Und wenn man nachts wieder oben auf der grossen Terrasse des Bauhaus-Hotels sitzt, nahe der Geisterstunde, badend im Lichte des Vollmonds überm schwarzen Lago Maggiore, und über die Leinwand flimmern surrealistische Experimentalstummfilme, untermalt von Linda Vogels irren Harfenklängen und der ekstatischen Stimme von Constanza Pellicci, ja, wenn einem spätestens da nicht Herz und Seele aufgehen, ist man vielleicht wirklich in Gefahr, weder das eine noch das andere zu besitzen.