Die Fehleinschätzung eines Gutachters kann einen Patienten finanziell ruinieren. Diagnosen wie Long Covid, Schleudertrauma und Fibromyalgie sind besonders heikel.
Es könnte der Freund, die Schwester oder die Arbeitskollegin sein: Jemand klagt ständig über Kopfschmerzen, hat Mühe, sich zu konzentrieren, ist vergesslich und immer müde. Doch anders als bei einer Grippe verschwinden die Symptome nicht nach wenigen Tagen. Nein, sie gehören zum Alltag – und das seit Jahren. Manche können nicht mehr arbeiten, vertragen keinen Lärm und reduzieren ihr Sozialleben auf ein Minimum. Die Krankheit wird zum Lebensinhalt, der Gang zum Spezialisten zur Routine.
Irgendwann folgt dann eine Diagnose: Sie heissen Long Covid, Schleudertrauma oder Fibromyalgie. Diese Krankheiten sind perfide, weil sie anders als ein gebrochenes Bein nicht sichtbar sind. Sie sind auch nicht messbar wie zu hoher Blutdruck oder ein zu hoher Cholesterinspiegel. Und doch sind diese Patienten krank.
Oder etwa doch nicht?
Diese Frage müssen Versicherungsmediziner von Krankentaggeldversicherungen und der Invalidenversicherung (IV) klären. Von ihren Gutachten hängt es ab, ob die Betroffenen Geld von den Versicherungen bekommen oder nicht.
Doch wie stellen sie fest, ob jemand simuliert, übertreibt oder wirklich krank ist?
Simulieren ist selten
Gerhard Ebner ist Psychiater, Versicherungsmediziner und Vorstandsmitglied bei Swiss Insurance Medicine (SIM). Er sagt: «Die Beurteilung der Echtheit von gezeigten Beschwerden und Einschränkungen ist eine schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe. Die Folgen einer Fehleinschätzung sind gravierend.»
Schreibt der Versicherungsmediziner eine Person gesund, die eigentlich krank ist, kann das bis zum finanziellen Ruin führen. Wer bezichtigt wird, eine Krankheit vorzutäuschen, muss zudem mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen. Kommt der Gutachter zum Schluss, dass eine Person krank ist, obwohl sie es nicht ist, erhält diese zu Unrecht Versicherungsleistungen. Wenige Einzelfälle reichen aus, damit die Bevölkerung das Vertrauen in das Sozialversicherungssystem verliert.
Allerdings kommt es selten vor, dass jemand simuliert. Die Übertreibung bestehender Symptome ist hingegen häufiger. Manchmal beschreiben Menschen ihre Situation schlimmer, als sie ist, weil sie sich Geld in Form von Versicherungsleistungen versprechen.
Psychische Störungen eigneten sich besonders gut für die Übertreibung von Symptomen und Einschränkungen, sagt Ebner. Das habe damit zu tun, dass man bei psychischen Leiden fast ausschliesslich auf die Angaben der Betroffenen und ihres Umfeldes angewiesen sei. Der Anteil der Personen, die ihre Beschwerden bei einer versicherungspsychiatrischen Begutachtung übertreiben würden, sei nicht zu vernachlässigen.
Um herauszufinden, ob ein Patient übertreibt, stellt ihm der Versicherungsmediziner Fragen zur Krankengeschichte, zu seiner Persönlichkeit, zum sozialen Umfeld und zu seinen Aktivitäten. Manchmal spricht er auch mit dem Hausarzt oder dem Chef. Schliesslich schaut er sich an, ob die Antworten des Patienten in sich konsistent sind.
«Wenn mir jemand sagt, dass er sich überhaupt nicht konzentrieren kann, nicht einmal eine halbe Seite eines Buches lesen kann, dann aber über lange Strecken mit dem Auto fährt und auch während der mehrstündigen Begutachtung keine Konzentrationsstörungen zeigt, dann haben wir eine Inkonsistenz», sagt Ebner. Eine Inkonsistenz könne zwar auch medizinische Gründe haben. Wenn diese aber ausgeschlossen werden könnten, dann müsse die Inkonsistenz im Bericht vermerkt werden.
Früher war es MS, heute Long Covid
Für Long-Covid-Patienten sind Gutachten ein müssiges Thema. Sie stören sich daran, dass sie die Krankentaggeldversicherungen oft zu einem Versicherungsmediziner aus dem psychiatrischen Fachbereich schicken. Wieso nicht zu einem Internisten, Immunologen oder Neurologen? Chantal Britt ist Präsidentin des Vereins Long Covid Schweiz. Sie sagt: «Long-Covid-Patienten werden von den Versicherungen häufig als psychisch krank abgestempelt. Das führt dazu, dass Betroffene stigmatisiert und im schlimmsten Fall falsch behandelt werden.»
Gregory Fretz, Leitender Arzt für Innere Medizin am Kantonsspital Graubünden, sieht es differenzierter. «Eine somatische Krankheit, die chronisch verläuft, hat immer auch einen Effekt auf die psychische Gesundheit», sagt er. Eine rein psychiatrische Beurteilung werde der Krankheit nicht gerecht. Aber es spreche nichts dagegen, einen Psychiater beizuziehen, solange auch somatische Spezialisten zum Einsatz kämen.
Nur weil Long Covid nicht nachweisbar ist, heisst das nicht, dass es die Krankheit nicht gibt. Ähnlich verhielt es sich viele Jahre mit multipler Sklerose (MS): Die Ärzte konnten Symptome wie Taubheitsgefühle und Kribbeln in Armen und Beinen lange nicht einordnen. Heute sehen sie Schädigungen durch MS im Hirn oder Rückenmark mittels MRI.
Beim Schleudertrauma gibt es bis heute Fälle, bei denen man keine Verletzungen an der Wirbelsäule feststellen kann. Aber seit dem Jahr 2015 gilt ein Schleudertrauma zumindest nicht mehr als «mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar». Ähnlich verhält es sich mit Fibromyalgie, bei der die Patienten unter Muskelschmerzen und unter einer erhöhten Schmerzempfindlichkeit leiden.
In der Pandemie ist mit Long Covid ein neues Krankheitsbild hinzugekommen. Die Krankheit kann sich in über 200 verschiedenen Symptomen äussern. Die meisten davon sind diffus. Erschöpfung, Kopfschmerzen und Aufmerksamkeitsstörungen sind die drei häufigsten, die Patienten laut einer Studie aus dem Jahr 2021 schildern. Geht man von den Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus, müssten in der Schweiz mindestens 300 000 Personen an Long Covid erkrankt sein.
Geringe Chancen auf IV
Nicht nur die Symptome von Long Covid sind unterschiedlich, auch die Ausprägung der Krankheit variiert. Es gibt Menschen, die trotz Long Covid arbeiten. Und es gibt die, die nur noch ein Leben zwischen Bett und Sofa führen. Bei schwereren Fällen wird die Krankheit ME/CFS vermutet. Das ist ein chronisches Erschöpfungssyndrom, das meistens durch eine virale Infektion ausgelöst wird. Diese Krankheit kennt man schon länger, aber sie ist ebenso wenig nachweisbar wie Long Covid.
Das heimtückische an ME/CFS ist, dass viele Patienten für eine kurze Zeit durchaus einer erhöhten Belastung ausgesetzt werden können. Beim Versicherungsmediziner wirken sie vital, sie sitzen weder im Rollstuhl, noch gehen sie an Krücken. Sie können sich verbal gut ausdrücken und benennen ihre Krankheitssymptome in aller Klarheit.
Doch das rächt sich am nächsten Tag. Sie können dann das Bett für mehrere Tage nicht mehr verlassen, weil sie ihre ganze Energie in den Arztbesuch gesteckt haben. «Crash» nennen es die Betroffenen. Es ist frustrierend: Der Versicherungsmediziner sieht den Patienten mit grosser Wahrscheinlichkeit nie in diesem Zustand.
Wer sich von Long Covid oder ME/CFS nicht mehr erholt, ist ein Fall für die IV. Die Chancen auf eine IV-Rente sind aber gering. Bis Ende 2023 haben sich 2900 Betroffene bei der IV angemeldet. Fast alle sind 100 Prozent krankgeschrieben, aber nur 12 Prozent erhalten eine Rente. Das klingt nach wenig. Aber tatsächlich sind die Chancen für Long-Covid-Patienten, eine IV-Rente zu bekommen, immer noch besser als für Personen, die aus anderen Gründen bei der IV angemeldet sind. Von ihnen erhalten nur 9 Prozent eine Rente.
Gregory Fretz, Leitender Arzt für Innere Medizin am Kantonsspital Graubünden, hat Patienten, die sich dem IV-Prozess gar nicht erst aussetzen. Die Betroffenen müssen mehrere Versicherungsmediziner aus verschiedenen Fachrichtungen in mehreren Städten aufsuchen. Nur schon die Anreise bedeutet für die Patienten Stress.
Viele Patienten verlassen sich daher auf die finanzielle Unterstützung durch den Partner oder die Partnerin. «Ich empfehle diesen Patienten, sich dennoch bei der IV anzumelden, weil es auch zu einer Trennung kommen könnte. Und auch weil ihnen eine korrekte versicherungsmedizinische Beurteilung zusteht», sagt Fretz. Andere Patienten leben vom Ersparten, weil sie ausgesteuert sind und noch keinen Bescheid von der IV haben. Nochmals andere wurden bereits beim Sozialamt vorstellig, weil sie nur noch 2000 Franken auf dem Konto haben.
So mancher Long-Covid-Patient wünscht sich, er hätte ein sichtbares Leiden. Es wäre ihm einiges erspart geblieben.