Was muss sich bei Rente und Steuern ändern? Eine Auslegeordnung mit der Ökonomin Monika Bütler und der Juristin Andrea Opel.
Andrea Opel (links) und Monika Bütler würden die Leistungen der AHV an das Vorhandensein von Kindern anknüpfen und nicht an den Zivilstand. Die Vorzugsbehandlung der Hausfrauen halten sie für nicht mehr zeitgemäss.
Ein pensioniertes Ehepaar erhält heute maximal 3780 Franken AHV-Rente im Monat, ein Konkubinatspaar 5040 Franken. Die Mitte-Partei findet das «unfair» und will die Plafonierung der Ehepaarrenten mit einer Initiative aufheben. Werden Ehepaare heute unfair behandelt?
Monika Bütler: Nein, das werden sie nicht. Die AHV berücksichtigt, dass ein Paar mit gemeinsamem Haushalt weniger Kosten hat als eine alleinstehende Person. Die Ehepaare profitieren von der AHV, quantitativ ist die Sache klar: Die Benefits sind übers Ganze gesehen grösser als der Nachteil der plafonierten Rente.
Andrea Opel: Die Ehefrauen, die keinen Beruf ausüben, sind über den Mann mitversichert, die Witwen und Witwer erhalten eine Hinterlassenenrente, und anderes mehr: Die AHV bietet den Ehepaaren etliche Vorteile. Einfach nur die Plafonierung aufzuheben und den Rest zu belassen, wäre unausgewogen.
Bütler: Natürlich gibt es Schlaumeier, die nehmen die Vorteile der Ehe bis zum Rentenalter und lassen sich dann scheiden, um je eine höhere Einzelrente zu erhalten.
Zwei Expertinnen für Renten- und Steuerpolitik
fon. Monika Bütler war bis 2021 Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen. Heute ist sie selbständig tätig und Mitglied in zahlreichen Verwaltungsräten. Monika Bütler lebt mit ihrer Familie in Zürich. Andrea Opel ist Professorin für Steuerrecht an der Universität Luzern. Sie stammt aus dem Baselbiet, wo sie mit ihrer Familie wohnt. Sie engagierte sich bei der von den FDP-Frauen eingereichten Volksinitiative für die Individualbesteuerung.
Ehepaare lassen sich vor der Rente tatsächlich scheiden, um mehr Geld von der AHV zu erhalten?
Bütler: Es lässt sich wohl niemand scheiden allein wegen der Rente, aber dieser Punkt kann den Ausschlag geben, wenn die Ehe ohnehin auf der Kippe steht. Das zeigt sich auch beim Heiratsverhalten: Ob und wann Paare heiraten, hängt wesentlich ab von der individuellen Situation bei Steuern und Sozialversicherungen. Sie heiraten früher, wenn die Ehe Vorteile bringt, vor allem bei der sozialen Absicherung, und sie heiraten später, wenn sie als Doppelverdiener der steuerlichen Heiratsstrafe ausweichen wollen.
Opel: Es ist ein Abwägen. Viele Paare überlegen sich genau, welche Auswirkungen der Zivilstand hat. So gibt es viele berufstätige Paare, die wegen der höheren Steuerbelastung nicht heiraten – ich selber gehöre auch dazu. Viele heiraten erst später im Leben, wenn die gegenseitige Absicherung mehr in den Fokus rückt und das Thema Erbschaftssteuer aktuell wird; unverheiratete Paare haben in den meisten Kantonen Nachteile, wenn es ums Erben geht. Bei Paaren mit geringem Vermögen, die auf die AHV angewiesen sind, besteht durchaus ein Anreiz zur Scheidung im Alter. All dies zeigt, dass die Anknüpfung an den Familienstand bei Besteuerung und Sozialversicherungen wenig sinnvoll ist.
Viele Ehepaare empfinden die Plafonierung der Rente als ungerecht. Man habe ja schliesslich auch eingezahlt, heisst es.
Bütler: Es ist eine falsche Vorstellung, dass sich jede Person die AHV selber finanziert. Dieses Trugbild gibt solchen Initiativen mehr Schub. Die Leute sagen sich: «Ich habe mir die Rente selber verdient, und dann erhalte ich am Schluss noch weniger Geld.» Dabei findet eine riesige Umverteilung statt, wir finanzieren die AHV faktisch über eine Steuer.
Opel: Da die Beiträge ab 88 000 Franken nicht mehr rentenbildend sind, ist es mitnichten so, dass der Grossteil der AHV-Bezüger seine Renten selbst finanziert hat. Ich habe zudem Mühe damit, wenn man mit einer Initiative einen Ausbau der AHV fordert, aber die Finanzierung einfach ausblendet. Das war bei der 13. AHV-Rente so, und das ist bei der Ehepaarrente dasselbe.
Nicht nur die Initianten gehen der Frage der Finanzierung aus dem Weg, auch die Stimmbevölkerung tut dies zunehmend. Wie erklären Sie sich das?
Opel: Der Ausbau des Wohlfahrtsstaats führt wahrscheinlich dazu, dass man das Gefühl hat: «Alle bekommen Geld, jetzt will ich auch.» Die Quellen werden als unerschöpflich angesehen. Und dann hat man ja noch die Reichen, die man besonders zur Kasse bitten kann – «Tax the rich» wird zusehends als Lösung für die Finanzierung des Sozialstaates angeboten, auch im Ausland.
Eine alleinstehende Frau, die stets berufstätig war, bekommt eventuell eine tiefere Rente als eine Hausfrau. Eine Leserin hat dazu geschrieben: «In meiner Nachbarschaft sitzen reihenweise Frauen herum, deren Kinder längst aus dem Haus sind. Die ‹käfele› den ganzen Tag, während ich um sechs Uhr aufstehe, um arbeiten zu gehen.» Ist die Privilegierung der Hausfrauen noch zeitgemäss?
Bütler: Nein, ganz klar nicht. Solange Kinder betreut werden müssen, soll dies die AHV berücksichtigen, mit Erziehungsgutschriften und Ehegattensplitting. Ein solcher Vorsorgeausgleich ist vernünftig, aber nur für die «Kinderzeit». Sobald die Kinder gross genug sind, kann jeder der Partner selber für sich vorsorgen. Dasselbe gilt umso mehr, wenn ein Paar keine Kinder hat. Ich würde die Leistungen der AHV an das Vorhandensein von Kindern anknüpfen und nicht an den Zivilstand.
Opel: Ich sehe das gleich. Ich finde es viel plausibler, darauf abzustellen, ob gemeinsame Kinder da sind, unabhängig vom Zivilstand. Kinder verändern das Leben eines Paares enorm und schränken zumindest zu Beginn die Erwerbsfähigkeit ein. Frauen sollten idealerweise überhaupt nicht vollständig aus dem Erwerbsleben aussteigen. Die Eigenverantwortung ist wichtiger geworden. So verlangt das Bundesgericht inzwischen von geschiedenen Frauen, dass sie – selbst nach langer Ehe – ihr Leben wieder selber finanzieren.
Bütler: Wenn sich eine Person ohne Kinder oder mit erwachsenen Kindern den Luxus leistet, nicht zu arbeiten, soll sie sich selber absichern. Oder sie kann sparen – man vergisst oft, dass dies auch eine Möglichkeit ist, für sich vorzusorgen.
Welches rechtliche Gewicht hat die Ehe heute noch?
Opel: Unser Rechtssystem fusst noch immer stark auf dem Zivilstand. Die Ehe ist wichtig für die ökonomisch schwächere Person, also mehrheitlich für die Frauen. Frauen, die wegen Kinderbetreuung oder Haushaltsarbeit Teilzeit oder gar nicht mehr arbeiten, sind abgesichert, wie sie es sonst nicht wären.
Bütler: Gerade mit Kindern ist die Ehe für Frauen vorteilhaft. Nicht nur finanziell, sondern wegen des damit verbundenen Standardvertrags, der vieles regelt. Wer verheiratet ist, kann den anderen beispielsweise unbürokratisch im Spital besuchen – solche Dinge erleichtern das Leben. Auf der anderen Seite hat man auch eine gewisse Verpflichtung dem Ehepartner gegenüber, man schuldet ihm oder ihr Beistand, auch finanziell.
Sind sich die Frauen bewusst, wie wichtig Vorsorge heute ist?
Opel: Das Problem liegt vielfach darin, dass man sich auf den Fortbestand der Ehe verlässt, was psychologisch natürlich nachvollziehbar ist. Wichtig wäre es, dass die Frauen einen Notfallplan haben. Aus diesem Grund wurde mit der Scheidungsrechtsrevision vor 25 Jahren ja auch die hälftige Teilung der beruflichen Vorsorge eingeführt. Diese greift aber eben nur, wenn die Paare tatsächlich heiraten und nicht aus steuerlichen Gründen auf eine Heirat verzichten.
Bütler: Das stimmt, gleichzeitig entspricht es nicht der menschlichen Denkweise, so weit voraus vorzusorgen. Wenn das Rentenalter 30, 40 Jahre entfernt ist und die positiven oder negativen Folgen seines Handelns erst dann spürbar sind, ist es verständlich, dass sich junge Menschen nicht mit der Alterssicherung befassen wollen.
Das trifft aber auch auf junge Männer zu.
Bütler: Bei den Männern sieht es zum Teil ähnlich aus. Auch sie können gravierende Lücken in der Vorsorge haben. Ein Unterschied liegt darin, dass sich Männer noch immer in der Rolle des Hauptversorgers sehen, Frauen nicht. Wenn ich Studentinnen frage, ob sie sich überlegt haben, mit welchem Berufsweg sie eine Familie finanzieren können, höre ich oft: «Das muss ich ja nicht.» Diese Reaktion habe ich noch nie bei einem Mann gesehen.
Opel: Es ist auch heute noch in der Regel so, dass die Männer die ökonomisch stärkeren Partner in der Beziehung sind. Dies führt dazu, dass sie bei einer Scheidung die Hälfte ihrer Pensionskassengelder an die Frau abgeben müssten. Viele entziehen sich dem, indem sie auf eine Heirat verzichten. Steuerliche Gründe werden da auch gerne mal vorgeschoben.
Bei den Steuern soll die Ehe künftig keine Rolle mehr spielen: Der Bundesrat und der Nationalrat wollen die Individualbesteuerung einführen. Kritiker bemängeln, dass damit Doppelverdiener gegenüber Alleinverdienern bevorzugt würden.
Opel: Heute sind es Alleinverdiener-Ehepaare, die steuerlich privilegiert sind. Doch inzwischen gibt es zwei Mal so viele Doppelverdiener- wie Alleinverdiener-Ehepaare. Mit der Individualbesteuerung werden wir der gesellschaftlichen Realität besser gerecht als mit der gemeinsamen Veranlagung. Aber es stimmt: Traditionell lebende Paare werden mit der Individualbesteuerung schlechter gestellt als jene, die zwei Einkommen haben und gleichmässig verdienen.
Bütler: Ich bin grundsätzlich für die Individualbesteuerung. Aber es ist schwierig zu rechtfertigen, warum ein Paar, bei dem beide je 50 Prozent Teilzeit arbeiten, weniger Steuern zahlen muss als ein Paar, bei dem der eine 100 Prozent arbeitet und dasselbe Einkommen erwirtschaftet. Das muss nicht unbedingt ein traditioneller Haushalt sein – viele weibliche CEO mit Kindern haben Männer, die zu Hause sind. Was noch dazukommt: Die Alleinerziehenden werden mit der Individualbesteuerung plötzlich viel mehr mit Steuern zahlen müssen, weil der Ehepaartarif, von dem sie heute profitieren, wegfällt.
Das tönt nicht gerade zuversichtlich.
Bütler: Wenn bei der Bevölkerung der Eindruck entsteht, mit der Individualbesteuerung entlaste man die reichen Doppelverdiener ohne Kinder, dann bekommen wir eine eigentlich gute Idee nicht durch. Es braucht deshalb ein Korrektiv wie höhere Kinderabzüge für die unteren und mittleren Einkommen.
Opel: Eine neue Studie der Universität St. Gallen zeigt, dass von der Heiratsstrafe tatsächlich ganz überwiegend junge Doppelverdiener-Paare mit Kindern betroffen sind, die zur gegenseitigen Absicherung heiraten. Wollen wir ein System bewahren, das diesen Effekt hat? Das «gerechtere» System für die Mehrheit ist inzwischen nicht mehr die gemeinsame Veranlagung, sondern die individuelle. Ich finde aber auch, man kann durchaus dem Vorhandensein von Kindern mehr Gewicht geben und mit Abzügen nachbessern.
Die Gegner sagen, als Ehepaar sei man eine wirtschaftliche Einheit und lebe ein «Wir-Gefühl». Und die Umstellung auf die individuelle Veranlagung habe enorme Kosten zur Folge.
Bütler: Das «Wir-Gefühl» halte ich für ein vorgeschobenes Argument. Auch dass die Individualbesteuerung so teuer sein soll, überzeugt mich nicht. Jeder Ehegatte wurde vor der Ehe einzeln veranlagt, und fast alle Ehepaare werden irgendwann wieder getrennt, durch Scheidung oder Tod, und dann auch wieder einzeln veranlagt. Man könnte sich die Kosten des Zusammenführens und Trennens schenken.
Opel: Das sagt übrigens auch der Kanton Bern, der ein grosser Kanton ist mit vielen Veranlagungen: Die Kosten werden sich am Ende aufheben, und die Digitalisierung hilft ja auch. Meine Studenten übrigens verstehen nicht, warum man nach der Heirat plötzlich zusammen die Steuererklärung ausfüllen muss. Junge Menschen halten es für absurd, dass ein Paar zusammen veranlagt wird. Das heutige Steuersystem stammt aus einer anderen Zeit, als die Frau mit der Ehe rechtlich sozusagen unterging. Übrigens: Wenn das System der Familienbesteuerung aus verwaltungsökonomischen oder anderen Gründen der Individualbesteuerung überlegen wäre, stünde die Schweiz in Europa damit wohl kaum fast allein da.
Bütler: Es verstecken sich noch zu viele Frauen hinter dem Mann, er nimmt einem die Arbeit für die Steuererklärung ab. Das halte ich für falsch: Jede Person sollte ihre eigene Steuererklärung ausfüllen.
Opel: Der psychologische Effekt ist enorm, wenn man selber für die Steuererklärung verantwortlich ist und sieht, welches Vermögen und welches Einkommen man selber hat. Werden die Ehegatten zusammen veranlagt, meinen viele Ehefrauen, dass der Lohn des Mannes ihr gemeinsames Einkommen sei. Sie realisieren nicht, dass sie selber gar keines haben.
Was halten Sie von einem Wahlmodell, bei dem jedes Ehepaar zwischen der individuellen und der gemeinsamen Veranlagung wählen kann?
Opel: Deutschland kennt das Wahlrecht für Ehepaare. Das wäre auch für die Schweiz grundsätzlich denkbar. Man muss sich aber bewusst sein, dass dieses Modell zu viel höheren Steuerausfällen führen würde als die Individualbesteuerung. Jedes Ehepaar würde sich für das vorteilhaftere System entscheiden. Zudem wirft das Wahlmodell auch praktische Fragen auf: Soll man jedes Jahr neu entscheiden können, ob man gemeinsam oder individuell veranlagt werden will?
Ein Argument für die Individualbesteuerung lautet, dass die Frauen auf diese Weise mehr arbeiten würden. Ist das stichhaltig?
Bütler: In den meisten Kantonen existiert die steuerliche Heiratsstrafe bis weit in den oberen Mittelstand hinein nicht oder kaum mehr. Aus diesem Grund zeigen empirische Studien, dass die Aufhebung der Heiratsstrafe in der kurzen Frist nur einen geringen Einfluss auf das Arbeitsverhalten der Frauen hat. Die Grössenordnung ist so etwa eine Woche mehr Arbeit pro Jahr. Die Erhöhung der Arbeitstätigkeit der Frauen dürfte geringer ausfallen als erhofft, wenn die Heiratsstrafe im Bund beseitigt wird.
Opel: Es gibt verschiedene Studien zu den Erwerbsanreizen mit unterschiedlichen Aussagen, alle zeigen aber einen Effekt. Wie gross dieser ist, ist für mich zweitrangig. Ich finde ein System falsch, das negative Erwerbsanreize setzt. Wir können uns ein solches System für die Zukunft nicht leisten. Ich sehe es auch in meinem Umfeld, dass viele Paare rechnen und sich am Ende dafür entscheiden, dass die Frau zu Hause bleibt. Die Steuern sind dabei einer der Faktoren.
Der grösste negative steuerliche Arbeitsanreiz kommt von der Progression der Bundessteuern. Müsste man nicht hier ansetzen?
Bütler: Die Progression der Bundessteuer trifft den oberen Mittelstand hart, so steigt der Grenzsteuersatz – also der Steuersatz für zusätzliche Einkommen – für Verheiratete zwischen 130 000 Franken und 155 000 Franken von 7 auf 13 Prozent und ist dann für eine Weile höher als der Grenzsteuersatz von Millionären. Dies müsste korrigiert werden. Gleichzeitig ist eine relativ starke Progression bei der Bundessteuer nicht per se schlecht. Sie führt dazu, dass bei uns die Umverteilung über Transferleistungen geringer ist als im Ausland. Transfers sind viel weniger effizient als Steuern.
Opel: Der Bundesrat hat 2021 Berechnungen zu einem proportionalen Steuersystem im Bund angestellt. Bei einer haushaltneutralen Umsetzung könnte der Tarif bei 4,5 Prozent angesetzt werden – das wäre für Gutverdiener ein Traumsteuersatz. Doch wenn man schaut, wer von einem solchen System profitieren würde, dann sind es lediglich die obersten 7 Prozent. Über 70 Prozent der Bevölkerung – der Mittelstand – würden verlieren. Für die anderen 20 Prozent ist es egal, weil sie ohnehin keine Steuern zahlen. Eine Vorlage, die für 70 Prozent der Bevölkerung mit finanziellen Nachteilen verbunden ist, hat politisch keine Chance. Ich bin ausserdem überzeugt, dass es eine gewisse Umverteilung in der Gesellschaft braucht. Das geschieht idealerweise über die Steuern.
Ein anderes Thema: Sie sind beide im Beruf sehr erfolgreich, und Sie sind beide Mütter. Was antworten Sie jungen Frauen, die sagen, man könne als Mutter heute nicht Karriere machen?
Bütler: Es ist paradox: Als meine Kinder klein waren, kam die Skepsis gegenüber voll berufstätigen Müttern eher von konservativen Kreisen. Heute ist man skeptisch eher von links: «Was? Du hast als Mutter voll gearbeitet, die Illusion der Vereinbarkeit hochgehalten?» Dass bei jungen Frauen die vermeintliche «Vereinbarkeitslüge» so sehr im Zentrum steht, macht mich traurig. Um auf die Frage zu antworten: Das Wichtigste ist wohl «Cherchez l’homme»: den Vater in die Pflicht nehmen, und zwar von Anfang an, und als Mutter bereit sein, Verantwortung an den Vater abzugeben.
Es braucht also den richtigen Mann.
Bütler: Den richtigen Mann und den Willen, Karriere zu machen. Ich wollte beruflich etwas erreichen, und zwar in Vollzeit. Dafür habe ich sehr viele Abstriche gemacht. Mein Leben bestand während zehn Jahren aus Familie und Beruf, und sonst gab es nichts. Das gilt aber nicht nur für Mütter, sondern auch für Väter: Wenn Kinder da sind, müssen alle Abstriche machen. Bei der Vereinbarkeit hilft zudem der Mut zur Imperfektion.
Im Beruf oder in der Familie?
Bütler: Sowohl als auch. Ich habe, als die Kinder klein waren, interessante berufliche Möglichkeiten ausgelassen, weil ich nicht 60 Stunden die Woche arbeiten wollte. Und zu Hause war es bei uns oft etwas chaotisch, Kinderpartys haben wir nie organisiert.
Opel: Als mein erstes Kind auf die Welt kam, war ich sehr jung und hatte einen enormen Anspruch, alles perfekt zu machen. Beim zweiten Kind war ich 16 Jahre älter, und jetzt fällt es mir viel leichter, Mut zur Lücke zu haben. Man kann nicht allen gesellschaftlichen Ansprüchen genügen. Aber auch die Ansprüche, die man an sich selbst hat, sind eine Herausforderung. Ein schwieriger Schritt war für mich, die Kinderbetreuung teilweise abzugeben.
Bütler: Ich fand es zugegebenermassen recht hart, als Mutter plötzlich nicht mehr die Hauptbetreuungsperson für die Kinder zu sein. Ich erinnere mich, als ich das erste Mal nach dem Mutterschaftsurlaub ein paar Tage an einer Konferenz verbracht habe und mein Kind bei der Rückkehr den Kopf von mir abwandte – da bin ich in Tränen ausgebrochen.
Sollte man sich als Mutter mehr Zeit lassen, um nach der Geburt wieder in den Beruf einzusteigen?
Opel: Grundsätzlich rate ich dazu, nicht zu lange vom Job fernzubleiben und rasch wieder einen Fuss in die Arbeitswelt zu setzen. Ist man erst einmal ein paar Jahre ausgestiegen, wird die Rückkehr ins Berufsleben sehr anspruchsvoll. Ich selbst bin nach dem Mutterschaftsurlaub jeweils sofort an den Arbeitsplatz zurückgekehrt. Ein Leben zwischen Familie und Job finde ich enorm bereichernd. Ich muss dazu aber auch sagen, dass mir die akademischen Freiräume dabei helfen, beides unter einen Hut zu bringen.
Bütler: Die meisten Frauen verlängern den Mutterschaftsurlaub um zwei Monate und bleiben ein halbes Jahr weg. Schwangerschaft und Stillen sind körperlich und psychisch sehr beanspruchend. Vielleicht müsste man über einen sechsmonatigen Mutterschaftsurlaub nachdenken. Bei allem dürfen wir nicht vergessen: In unserer Gesellschaft ist es eine freie Entscheidung, Kinder zu haben oder nicht. Die gegenwärtige Diskussion irritiert mich, weil sie klingt, als seien Kinder nur eine Last, die einem aufgezwungen wurde. Natürlich sind Kinder unglaublich anstrengend und teuer, für Mütter wie für Väter, doch sie bereiten den Eltern auch viel Freude.