Antizionismus kommt bei Einwanderern aus Tunesien oder Marokko auch in akademischen Kreisen häufig vor, sagen Fachleute. Bei religiösen Jugendlichen kippt das nicht selten in offenen Antisemitismus.
Der brutale Mordanschlag auf einen Juden mitten in Zürich hat schlagartig ins Bewusstsein gerufen, welchem Risiko Jüdinnen und Juden in der Schweiz ausgesetzt sind. Antisemitische Attacken haben seit den Terroranschlägen der Hamas vom 7. Oktober in der Schweiz, wie überall in Europa, generell zugenommen, auch tätliche Angriffe. Noch nie aber ist es in der Schweiz in den letzten Jahren zu einer solchen Bluttat gekommen wie in der Nacht auf Sonntag in Zürich.
Das Profil des mutmasslichen Täters, ein Schweizer Jugendlicher mit tunesischen Wurzeln, wirft dabei die Frage auf, inwiefern eingewanderte und möglicherweise radikalisierte Personen aus muslimischen Ländern für die jüdische Gemeinschaft zur Gefahr werden. Insbesondere, wenn es sich um Jugendliche handelt. «Ich bin hier, um Juden zu töten», soll der 15-jährige Angreifer laut Zeugenaussagen gerufen haben. Das Aussehen des beschuldigten Jungen mit tunesischen Wurzeln wirkt dabei trotz der unfassbaren Schreckenstat knabenhaft kindlich. Was ist hier passiert?
Es sei ein Fakt, dass der schlimmste antisemitische Angriff seit Jahren mutmasslich durch einen muslimischen Täter begangen worden sei, stellt Jonathan Kreutner fest, der Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG). Er wehrt sich allerdings dagegen, Antisemitismus aufgrund eines einzelnen Falles nach Kategorien zu klassifizieren: Er verfüge im Moment über keine Belege dafür, dass der muslimische Antisemitismus in der Schweiz generell gefährlicher oder gewaltbereiter sei als Judenfeindlichkeit anderer Ausprägung. Diese Frage sei aufgrund der bisherigen Erfahrungen offen.
Antisemitismus bewirkt neuen Antisemitismus
Tatsächlich haben judenfeindliche Vorfälle seit dem 7. Oktober dramatisch zugenommen, und keineswegs alle sind auf Personen mit Migrationshintergrund zurückzuführen. Allein in den drei Wochen nach dem Hamas-Anschlag zählte die Meldestelle des SIG in Online-Medien und auf Social Media viermal so viele Vorfälle wie sonst. Hinzu kam ein Anstieg tätlicher Angriffe. Es gebe dabei kein Milieu, das besonders hervorsteche, sagt Kreutner. Oft lasse sich die Urheberschaft auch gar nicht so einfach feststellen: «Wenn ein Jude auf der Strasse angespuckt wird, ist nicht immer klar, welchen Hintergrund die Täterin oder der Täter hat.»
Gleichzeitig bestärken sich die Milieus in ihrem Hass gegenseitig – so unterschiedlich sie auch sind. Antisemitismus löst neuen Antisemitismus aus. So bewirkte der versuchte Mordanschlag vom Wochenende nicht nur Entsetzen, sondern gleichzeitig neue judenfeindliche Attacken. Laut Kreutner hat sich beim SIG unter anderem ein Mann gemeldet, der die Bluttat auf den Zürcher Juden offen begrüsste. Zur Erklärung lieferte er eine abenteuerliche Geschichte: Sein angeblich ebenfalls jüdischer Vermieter habe ihm die Heizung abgestellt – die Juden seien also selber schuld. Offen vorgetragener und ungebremster Antisemitismus mitten in Zürich als Rechtfertigung für einen Mordversuch.
«In diesem Fall hatte der Anrufer ganz offensichtlich keinen Migrationshintergrund», erklärt Kreutner und ergänzt: «Antisemitismus kommt eben aus der Mitte der Gesellschaft.» Auf der Plattform X macht der Zürcher Historiker Kijan Espahangizi ebenfalls auf diese gegenseitige Wechselwirkung von Judenfeindlichkeit unterschiedlicher Prägung aufmerksam. Wer Israel als «jüdischen Apartheidstaat» dämonisiere, sei ganz direkt für Gewalt mitverantwortlich, twitterte er und zieht damit eine direkte Linie vom Antisemitismus der antiimperialistischen Linken zur Bluttat von Zürich.
Gewaltbereitschaft gestiegen
Der frühere Basler Migrationsbeauftragte Thomas Kessler erklärte am Montag gegenüber dem «Blick» im Zusammenhang mit dem Anschlag in Zürich, die Radikalisierung und die Bereitschaft zu Gewalt habe unter Jugendlichen stark zugenommen. Seit dem Hamas-Überfall äusserten sich Antisemiten nicht nur immer häufiger und aggressiver, sondern gewaltbereite junge Männer trügen auch öfter Messer mit sich. Dieses Problem werde unterschätzt, sagt Kessler. Oft würden Kinder durch ihre Eltern schon im Vorschulalter indoktriniert. In den Berichten des Nachrichtendienstes lässt sich ebenfalls nachlesen, dass Islamisten in der Schweiz aktiv seien und Konflikte anheizten.
Vor vier Jahren stürmte ein schweizerisch-türkischer Doppelbürger in ein Kebab-Lokal in Morges und stach mit einem Küchenmesser unvermittelt auf einen 29-jährigen Portugiesen ein. Das Opfer verstarb innert kurzer Zeit an inneren Blutungen. Der Anschlag war zwar nicht antisemitisch motiviert, doch der Täter gab vor Gericht an, aus politisch-religiösen Gründen gehandelt zu haben – weil er die Schweiz als Teil der Koalition gegen den IS bestrafen wollte. Im selben Jahr kam es in Lugano zu einer Messerattacke durch eine 28-jährige Islamistin. Solche Taten zeigen, welches Gefährdungspotenzial entsteht, wenn Ideologie auf Gewaltbereitschaft trifft.
In der Schweiz gibt es im Unterschied zu Deutschland allerdings kaum Untersuchungen dazu, ob Muslime grundsätzlich antisemitischer eingestellt sind als der Rest der Gesellschaft. Neuere Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen jedoch, dass Personen mit muslimischer Religionszugehörigkeit antisemitischer sind als Christen. Über 45 Prozent stimmten beispielsweise der Aussage mehr oder weniger eindeutig zu, Juden hätten in der Welt zu viel Einfluss. Allerdings beträgt dieser Anteil auch bei Personen christlichen Glaubens beinahe 30 Prozent. Überdeutlich bestätigt dies die Aussagen von Kreutner, wonach Antisemitismus in allen Gesellschaftsteilen vorkommt.
Eine der wenigen Studien wurde 2021 von Dirk Baier vom Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften durchgeführt. Sie untersuchte die Einstellung von Jugendlichen und zeigt, dass Antisemitismus unter jungen Muslimen in der Schweiz deutlich verbreiteter ist als unter Christen derselben Altersklasse. Laut der Studie sind knapp über 30 Prozent der männlichen und sehr religiösen jugendlichen Muslime (Durchschnittsalter: 17,6 Jahre) antisemitisch eingestellt – also Personen aus jener Altersklasse, aus der der mutmassliche Täter von Zürich stammt.
Religiöse Muslime sind oft judenfeindlich
Sie stimmen Aussagen zu, wonach Juden in der Schweiz zu viel Einfluss hätten oder Juden durch ihr Verhalten an der Verfolgung mitschuldig seien. Bei sehr religiösen Christen desselben Alters und Geschlechts ist die Zustimmung immer noch erschreckend hoch, aber mit einem Wert von 9,3 Prozent deutlich tiefer. Bei den Studienteilnehmerinnen zeigt sich ein ähnliches Bild, aber auf tieferem Niveau. Es sei allerdings notwendig, aktuellere Daten zu diesem Thema zu haben, sagte Baier gegenüber dem «Tages-Anzeiger».
Er höre aus Schulen immer wieder, dass muslimische Schüler israelfeindliche Haltungen einnähmen und teilweise recht offen mit Gewalt drohten, so Baier. Laut Peter Gautschi, Professor für Geschichtsdidaktik an der Pädagogischen Hochschule in Luzern, hat der Antisemitismus an Schulen bereits mit der Pandemie zugenommen, was er auf das verstärkte Aufkommen von Verschwörungstheorien zurückführe. Diese seien häufig antisemitisch unterfüttert. Nach dem 7. Oktober sei es zu einem weiteren Schub gekommen, sagt Gautschi, der mehrfach zum Antisemitismus im Bildungsbereich publiziert hat. Gautschi bezieht sich dabei auf Anfragen aus der Lehrerschaft, die in diesem Kontext an ihn gerichtet würden.
«Während ich vor der Pandemie etwa einmal jährlich um Rat gebeten wurde, ist dies heute wöchentlich der Fall», sagt Gautschi. Keine Angaben könne er allerdings dazu machen, welchen Hintergrund der Antisemitismus an Schulen habe. Wie krass das Ausmass der Judenfeindlichkeit teilweise ist, zeigt dagegen ein aktueller Bericht aus der Romandie. Antisemitismus sei an Westschweizer Schulen sehr verbreitet, heisst es darin. In einigen Schulen sei das Wort «Jude» zu einer Beleidigung geworden, und Memes von Hitler und dem Dritten Reich seien in Whatsapp-Gruppen äusserst beliebt. Auf einen Schulhof seien jüdische Schülerinnen und Schüler regelmässig mit der Parole niedergeschrien worden: «Israel should die» – Israel muss sterben.
«Hier bin ich heute, der Soldat des Kalifats»
Nach Einschätzung des Basler Autors und Maghreb-Experten Beat Stauffer ist eine antiisraelische und antizionistische Haltung bei Personen aus nordafrikanischen Ländern bis tief in akademische Kreise verbreitet: «Das ist selbst bei hochdifferenziert denkenden Pharma-Forschern nicht selten.» Bei Migranten mit geringerer Schulbildung werde daraus sehr häufig offener Antisemitismus, sagt Stauffer, der die Maghreb-Staaten seit mehr als vierzig Jahren regelmässig bereist. Als eine der Ursachen sieht Stauffer die Tatsache, dass in Nordafrika das Bewusstsein um die gemeinsame und reiche Vergangenheit von Juden und Arabern sukzessive abhandengekommen sei.
Bis vor wenigen Jahrzehnten lebten im Maghreb Hunderttausende von Juden. Inzwischen sind sie ausgewandert und vertrieben worden. Heute leben im Maghreb – mit Ausnahme Marokkos, und in sehr viel geringerem Umfang Tunesiens – kaum mehr Juden. Für einen Teil der illegalen Migranten aus diesen Ländern, zumeist junge Männer, sei der Islamismus in den letzten Jahren zur Leitideologie geworden und Antisemitismus damit selbstverständlich, beobachtet Stauffer. Das gelte auch für Männer aus dem Maghreb, die Frauen in die Schweiz folgten, um hier zu heiraten. Stauffer betont allerdings auch, dass die Mehrheit der legal in der Schweiz lebenden Maghrebiner noch immer gut integriert und von Gewaltbereitschaft weit entfernt sei.
Noch liegt im Dunkeln, in welches Muster der mutmassliche Täter aus Zürich passt. Zu vermuten ist, dass er eine Radikalisierung hinter sich hat, für deren Dimension es kaum eine einzige Ursache gibt. Das endete in Hass von unvorstellbarem Ausmass. «Hier bin ich heute, der Soldat des Kalifats», erklärt er in einem Bekennervideo. Der Beginn des Angriffs werde der Versuch sein, so viele Juden wie möglich zu töten, fährt er fort: «Habt keine Gnade mit ihnen.»