Die Ukraine steckt in einem Dilemma: Sie kämpft im Namen liberaler Werte einen Befreiungskrieg gegen Putins imperiales Russland; gleichzeitig kommt sie nicht umhin, Dekolonisierung mittels Verboten voranzutreiben. Geht sie damit im multikulturellen Odessa zu weit?
Odessa entzog sich schon immer allen Kategorisierungen. Niemand wusste das besser als Isaak Babel, der den aufmüpfigen Geist der Stadt in seinen «Geschichten aus Odessa» meisterhaft einfing. Die «lingua franca» in Odessa ist zwar seit Mitte des 19. Jahrhunderts Russisch, allerdings wurden hier auch Griechisch, Italienisch, Armenisch, Türkisch, Ukrainisch, Georgisch und Jiddisch gesprochen.
Die Dominanz der russischen Sprache in Odessa kann leicht dazu verleiten, Odessa als von Russen bewohnte russische Stadt zu bezeichnen. Im vergangenen Dezember tat Putin an einem seiner öffentlichen Auftritte genau dies: «Odessa ist natürlich eine russische Stadt. Wir wissen das. Wir alle wissen das ganz genau.»
Das ist natürlich Unsinn. Odessa hat sich klar als proukrainische Stadt positioniert. Viele Odessiten haben sich im Februar 2022 freiwillig zum Militärdienst gemeldet, mindestens 3000 von ihnen sind bereits umgekommen. Die Stadt hat 200 000 Flüchtlinge aus der Ostukraine aufgenommen.
Ideologische Inkonsistenzen
Allerdings ist nun eine hitzige Debatte um den multikulturellen Charakter der Stadt entbrannt. Im vergangenen Jahr hat das ukrainische Parlament ein «Dekolonisierungsgesetz» angenommen, das den «ukrainischen kulturellen und informationellen Raum» durch die «Liquidierung russischer imperialer Machtsymbole» schützen will. Auf dieser Rechtsgrundlage hat der von Kiew eingesetzte Gebietsgouverneur die Entfernung von neunzehn Denkmälern und die Umbenennung zahlreicher Strassen angeordnet.
Dieses Vorhaben stösst nun auf Widerstand. Die Anthropologin Anastasia Piliavsky, die am Londoner King’s College lehrt und zwischen Odessa und England pendelt, hat einen offenen Brief an die Generalsekretärin der Unesco, Audrey Azoulay, verfasst. Das Stadtzentrum von Odessa wurde im Januar 2023 notfallmässig in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes aufgenommen. Damit sollte ein rechtlicher Schutzschirm gegen die russischen Raketenangriffe aufgespannt werden. Allerdings liess sich der Kreml davon nicht abhalten. Bis heute sind über hundert Gebäude in Odessa durch russische Bomben zerstört worden. Im Juli 2023 schlug sogar eine Rakete in der Verklärungskathedrale ein.
Piliavsky fordert, dem blindwütigen Denkmalsturz in Odessa Einhalt zu gebieten und nach dem Ende des Kriegs eine öffentliche Anhörung zu dieser Frage unter Einschluss von Expertenstimmen durchzuführen. Sie weiss die grosse Mehrheit der Stadtbevölkerung hinter sich: In lokalen Telegram-Umfragen sprachen sich über 80 Prozent der Teilnehmer gegen eine Umbenennung von Strassen in Odessa aus.
Der britische Historiker Thomas de Waal, neben den Historikern Christopher Clarke und Carlo Ginzburg ein Mitunterzeichner von Piliavskys Brief, weist auf ideologische Inkonsistenzen bei dem angekündigten Ikonoklasmus hin.
So darf der Duc de Richelieu am oberen Ende der berühmten Potjomkin-Treppe stehen bleiben, obwohl er von Alexander I. als Gouverneur von Odessa ernannt wurde und als Kommandant im Dienst des Zaren in verschiedenen Kriegen gegen das Osmanische Reich kämpfte. Wahrscheinlich rettet ihn seine französische Herkunft. Umgekehrt muss der russische Nationaldichter Alexander Puschkin weichen, der wegen regierungskritischer Gedichte in den Süden des Zarenreichs verbannt wurde. Puschkin beschwor später den «europäischen Geist» von Odessa. Die Bürger der Stadt dankten es ihm, indem sie aus ihren eigenen Mitteln 1889 das nun zum Abbruch freigegebene Denkmal errichteten.
«Imperialisten» und «Kolonisierte»
Besonders störend ist die Tatsache, dass genau hier 2013 die ersten Demonstrationen des odessitischen Euromaidan stattfanden. Für Thomas de Waal geht es um mehr als um einen Denkmalstreit. Er ist selbst ein Nachfahre der berühmten griechisch-sephardischen Familie Ephrussi. Der Stammvater Karl Joachim Ephrussi (1792–1864) stammte aus Berditschew und wurde durch Getreidehandel im Freihafen Odessa reich. Die Ephrussis bauten repräsentative Palais in Wien und Paris. Gleichzeitig sammelten sie Gemälde und engagierten sich in den intellektuellen Debatten ihrer Zeit. Der Kunsthistoriker Charles Ephrussi wurde sogar zum Vorbild des Charles Swann in Prousts «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit». All dies ist Thema des grandiosen, tragisch-heroischen Erinnerungsbuches über die Sippschaft von Edmund de Waal, «Der Hase mit den Bernsteinaugen».
Die Debatte um das multikulturelle Erbe von Odessa, zu dem selbstverständlich auch russische Politiker und Künstler gehören, zeigt, dass sich der Unterschied zwischen «Imperialisten» und «Kolonisierten» nicht an der russischen Sprache oder Nationalität festmachen lässt.
Sogar bei Katharina der Grossen, die Ende 2022, also kurz vor Aufnahme des Stadtzentrums ins Unesco-Weltkulturerbe, vom Sockel gestürzt wurde, sind die Dinge nicht so einfach. «Katka», wie sie herablassend im odessitischen Volksmund heisst, hatte die freien Kosakenverbände aufgelöst und die ukrainischen Gebiete zu russischen Gouvernements gemacht. Die «russische Imperialistin», die sie in der Tat war, wurde aber als Sophie von Anhalt-Zerbst geboren und schrieb ihre Werke auf Französisch.
Nun soll auch das erst 2011 errichtete Denkmal für Isaak Babel abgetragen werden, obwohl er während des Stalin-Terrors 1940 erschossen wurde. Wie schon Isaak Babel augenzwinkernd feststellte, spricht man in Odessa nicht von «einem grossen Unterschied», sondern von deren «zwei».