Die Abstimmung im türkischen Parlament beendet den langen Machtpoker mit Stockholm, Brüssel und Washington. Damit Schweden in die Nato aufgenommen werden kann, fehlt aber das Ja aus Ungarn.
Nach mehr als anderthalb Jahren hat die Türkei ihren Widerstand gegen die Aufnahme Schwedens in die Nato aufgegeben. Am Dienstagabend votierte das Parlament in Ankara mit 287 zu 55 Stimmen klar für die Ratifizierung des Beitrittsprotokolls.
Islamisten und Linke lehnen Gesuch ab
Neben der islamisch-konservativen AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan und ihrem ultranationalistischen Bündnispartner MHP sprachen sich auch die Abgeordneten der kemalistischen CHP für die schwedische Mitgliedschaft im Nordatlantikpakt aus. Die grösste Oppositionspartei verfolgt traditionell einen prowestlichen Kurs.
Dagegen stimmten kleinere islamistische Verbündete Erdogans, aus Protest gegen die Haltung der Nato im Gaza-Krieg, und die nationalkonservative Oppositionspartei IYI, der die schwedischen Zugeständnisse in der Kurdenfrage nicht weit genug gingen. Die prokurdische DEM-Partei und kleinere Linkskräfte wiederum begründeten ihr Nein zur Vorlage mit einer pazifistischen Grundhaltung und einer prinzipiellen Ablehnung jeglicher Militärbündnisse.
Dennoch war das Ergebnis am Ende sehr deutlich. Die Zustimmung durch das türkische Parlament stellte stets eine eher theoretische als eine reale Hürde für Stockholms Beitrittsgesuch dar. Erdogan kann angesichts der Mehrheitsverhältnisse und seiner unangefochtenem Macht im eigenen Lager alle Vorlagen durch das Parlament bringen. Der wahre Entscheid wurde deshalb auch hier im Präsidentenpalast getroffen.
Nun fehlt nur noch die Zusage Ungarns, damit Schweden das 32. Mitglied des Verteidigungsbündnisses werden kann. Erweiterungsfragen unterliegen in der Nato dem Einstimmigkeitsprinzip, was jedem Mitgliedsstaat ein Vetorecht einräumt.
Beitrittsgesuche waren ein Verhandlungspfand
Der stets transaktional denkende türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat die im Mai 2022 unter dem Eindruck des russischen Überfalls auf die Ukraine gestellten Beitrittsgesuche Schwedens und Finnlands von Anfang an als Verhandlungspfand betrachtet. Denn grundsätzlich ist eine Stärkung der Nato-Nordflanke auch im sicherheitspolitischen Interesse der Türkei.
Die Causa verlieh Ankara jedoch eine Möglichkeit, anderswo Zugeständnisse zu erwirken. Zu Beginn stand dabei der Umgang mit kurdischen Aktivisten im Fokus. Tatsächlich sind in der Türkei nicht nur Regierungsanhänger der Ansicht, dass viele westliche Staaten die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) trotz deren Einstufung als Terrororganisation verharmlosen.
Obwohl rechtsstaatliche Prinzipien in Stockholm und Helsinki nie zur Disposition standen, kam man den türkischen Forderungen durchaus entgegen, etwa bei Reformen von Anti-Terror-Gesetzen. Am 31. März 2023 stimmte das türkische Parlament dem Nato-Beitritt Finnlands zu. Die Hoffnung bestand, dass es nach den Wahlen im Mai auch mit Schweden zu einem Durchbruch komme. Schliesslich bot der Streit für den bedrängten Erdogan auch eine Gelegenheit, sich im Wahlkampf zu profilieren.
Von der Kurdenfrage zur Rüstungspolitik
Dass die Türkei gegenüber Stockholm dennoch hart blieb, hatte weniger mit den Verstimmungen wegen öffentlicher Koranverbrennungen in Schweden zu tun, auch wenn die Vorfälle Ankara in die Hand spielten. Vielmehr ging es nunmehr um ein Rüstungsgeschäft mit den USA.
Für die Türkei hat die Modernisierung ihrer Luftwaffe schon lange hohe Priorität. Ankara will hierfür aus den USA 40 neue Kampfflugzeuge des Typs F-16 beschaffen und 79 weitere aufrüsten. Das Geschäft muss aber vom amerikanischen Kongress bewilligt werden. Dort sind die Vorbehalte gegenüber dem als zunehmend unzuverlässig empfundenen Bündnispartner gross, gerade in Rüstungsfragen. Deshalb wurde der amerikanische Präsident Joe Biden fortan zu Erdogans wichtigstem Verhandlungspartner in der Causa Schweden/F-16.
Biden erklärte bereits im Sommer, dass er sich für den Verkauf der Kampfflugzeuge einsetzen werde. Die von Erdogan eingeforderte Zusicherung, dass im Falle eines türkischen Ja zu Schweden der Kongress im Gegenzug seinen Widerstand gegen das Rüstungsgeschäft aufgeben werde, konnte der amerikanische Präsident freilich nicht machen. Der Einfluss des amerikanischen Staatschefs auf die Legislative ist, anders als im türkischen Präsidialsystem, begrenzt.
Augenmerk liegt nun auf Ungarn
Erdogan dürfte zu dem Schluss gekommen sein, dass er in der Frage des schwedischen Nato-Beitritts seinen Spielraum ausgereizt hat beziehungsweise die Kosten einer fortdauernden Blockade zu hoch sind – gerade auch angesichts der Spannungen durch den Gaza-Krieg und die Destabilisierung der gesamten Grossregion. Besonders in den USA ist der Missmut gegenüber der Türkei in den vergangenen Wochen immer grösser geworden.
Nun richtet sich das Augenmerk auf Viktor Orban. Eigentlich hatte der ungarische Regierungschef bereits vor Monaten erklärt, dass sein Land nicht als letztes über das schwedische Beitrittsgesuch entscheiden werde. Dies ist nun aber der Fall.
Today I sent an invitation letter to Prime Minister Ulf Kristersson @SwedishPM for a visit to Hungary to negotiate on Sweden’s NATO accession.
— Orbán Viktor (@PM_ViktorOrban) January 23, 2024
Kurz vor der Abstimmung im türkischen Parlament verkündete Orban, er habe den schwedischen Regierungschef Ulf Kristersson zu Verhandlungen über den Nato-Beitritt nach Ungarn eingeladen. Im Streit um die Ukraine-Gelder der EU hat Orban erst kürzlich unter Beweis gestellt, dass auch er das Einstimmigkeitsprinzip skrupellos zum eigenen Nutzen einzusetzen weiss.