Manche Menschen verzeihen sich kaum einen Fehler. Die Psychologin Astrid Schütz erklärt, weshalb es so schwer ist, die eigenen Schwächen anzunehmen – und wie man einen gnädigeren Umgang mit sich selbst findet.
Frau Schütz, in sozialen Netzwerken reden viele Menschen über Selbstliebe. Sie wollen mit sich ins Reine kommen. Ist das nicht ein schönes Ziel?
Nun ja, ich finde, Selbstliebe ist ein schwieriger Begriff. Es ist unklar, was damit gemeint ist. Wer sich perfekt findet und alle anderen als «doof» bezeichnet, hat wahrscheinlich narzisstische Züge. Solches Verhalten ist sozial problematisch. In funktionierenden Interaktionen sollte es nicht darum gehen, sich zu überhöhen. Konkreter ist der Begriff Selbstakzeptanz: eine günstige Eigenschaft, die bedeutet, sich zu akzeptieren – auch mit eigenen Fehlern und Schwächen.
Zur Person
Astrid Schütz
Das Wort Selbstakzeptanz kursiert tatsächlich ebenfalls in sozialen Netzwerken. Warum liegt es so sehr im Trend, ein besseres Verhältnis zu sich selbst zu bekommen?
Ja, das Thema liegt im Trend. Gleichzeitig nehme ich eine Tendenz zur Selbstoptimierung wahr. Vielleicht hängt beides miteinander zusammen.
Wieso?
Viele Menschen leiden unter der Vorstellung, dass sie sich beständig optimieren sollten. Gesunde Selbstliebe in Form von Selbstakzeptanz fehlt anscheinend in vielen Fällen – aber anscheinend suchen viele Menschen danach.
Warum fällt es offenbar so vielen Menschen schwer, sich selbst zu akzeptieren?
Hinter der Fähigkeit zur Selbstakzeptanz steht auch die Frage: Wovon mache ich meinen Selbstwert abhängig? Damit hängt zusammen, ob ich mich selbst akzeptieren kann.
Erklären Sie das bitte genauer.
Im besten Fall sehe ich mich als wertvoll, einfach weil ich existiere. Das würden wir «nonkontingenten Selbstwert» nennen. Aber viele Menschen knüpfen ihren Selbstwert an Bedingungen. Sie denken zum Beispiel, sie seien nur etwas wert, wenn sie Leistungen erbringen. Diese Sichtweise trägt nicht zu Selbstakzeptanz bei, sondern ist potenziell belastend. Denn wenn zum Beispiel ein berufliches Projekt schiefgeht, empfindet sich die Person nicht mehr als wertvoll.
Ich sollte ein Scheitern im Job also schulterzuckend hinnehmen?
Das ist nicht der Punkt. Selbstverständlich wird man sich ärgern. Hoffentlich möchte man daraus lernen, es beim nächsten Mal besser zu machen. Aber die Frage ist, ob Misserfolg und Selbstwert verknüpft werden, ob der Misserfolg bedeutet, dass ich wertlos bin.
Wieso sind viele Menschen so hart zu sich, wenn es einmal nicht läuft wie gewünscht?
Ja, das ist schade. Das hat sicher auch mit gesellschaftlichen Vorstellungen zu tun. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, in der wir danach gemessen werden, was wir leisten. Das fängt schon in der Kindheit an.
Sie meinen die Noten in der Schule?
Ja, und ich denke auch an den Umgang der Eltern mit diesen. Problematisch ist es, wenn Eltern unterstützen, dass ihre Kinder den Selbstwert mit Leistungen verknüpfen – indem sie das auch tun. Wenn sie dem Kind signalisieren: Du bist toll, weil du eine super Note aus der Schule mitgebracht hast.
Soll das etwa heissen, mein Kind wird später einmal weniger von sich halten, weil ich mich über seine schulischen Leistungen freue?
Na ja, eine gute Leistung ist natürlich Grund zur Freude. Eltern sollten selbstverständlich nicht sagen: «Hups, das kann ja mal passieren.» Die wichtigere Frage ist, wie sie reagieren, wenn einmal eine schlechte Note nach Hause kommt. Dies nicht in Zusammenhang mit dem Wert des Kindes zu bringen, ist wichtig. Besser wäre es, Verständnis und Mitgefühl zu zeigen und später Perspektiven zu besprechen, um die Situation zu verbessern. Es geht auch darum, dass das Kind Selbstmitgefühl lernt.
Was meinen Sie damit?
Beim Selbstmitgefühl geht es darum, wie ich mit mir umgehe, wenn etwas schiefgeht. Eltern können ihren Kindern helfen, Mitgefühl mit sich selbst zu entwickeln, indem sie zum Beispiel sagen: «Es ist schade, dass die Note schlecht war, und wahrscheinlich bist du enttäuscht. Weisst du, alle Menschen machen Fehler. Soll ich dich in den Arm nehmen?» Und später dann auch: «Können wir etwas tun? Sollen wir die Aufgaben noch einmal miteinander durchgehen?» Selbstmitgefühl ist wichtig, um sich auch mit den eigenen Schwächen zu akzeptieren.
Selbstwert und Selbstakzeptanz zu lernen, scheint eine lebenslange Aufgabe zu sein, die schon früh beginnt. Wie kann man das auch später im Leben noch üben, wenn man längst ein erwachsener Mensch ist und zu wenig Hilfe dafür in der Kindheit bekommen hat?
In einem ersten Schritt kann man die negativen Gedanken hinterfragen: «Bin ich wirklich wertlos, weil das Projekt schiefgegangen ist? Ist das wirklich zwingend miteinander verbunden?» Hilfreich ist es auch, wenn man sich selbst gegenüber eine Haltung entwickelt, wie sie eine gute Freundin hat. Diese würde sicher nicht sagen: «Das Projekt ist schiefgegangen, weil du ja wirklich wertlos bist.» Sondern sie würde mitfühlend reagieren.
Welche Übungen gibt es noch?
Wenn sich die kritische innere Stimme immer wieder meldet, dann kann man trainieren, die Gedanken aktiv zu unterbrechen. Es gibt Übungen, da stellt man sich vor, dass man den inneren Kritiker in einen Raum sperrt und den Schlüssel in einen Fluss wirft. Darüber hinaus kann man sich bewusst vor Augen führen, was alles gut läuft, indem man ein Tagebuch führt. Darin kann man notieren, was am jeweiligen Tag gut war und was der eigene Anteil daran war. Das ist eine hilfreiche Übung für Menschen, die vor allem auf das Negative fokussieren.
In sozialen Netzwerken gibt es einen regelrechten Hype ums Manifestieren. Dabei konzentriert man sich auf positive Gedanken, um die eigenen Wünsche zu erreichen. Ist das eine gute Methode, um den inneren Kritiker mundtot zu machen und mit sich ins Reine zu kommen?
Derartige Methoden können auch gefährlich werden. Denn es stimmt eben nicht, dass ich nur positiv denken muss, um alles zu erreichen, was ich will. Manchmal klappen die Dinge nicht so wie erhofft.
Aber eine positive Grundhaltung ist doch hilfreich. Wenn ich zu einem Vorstellungsgespräch gehe und denke, das wird sicher nichts, dann strahle ich das ja womöglich auch aus.
Ja, eine optimistische Haltung ist hilfreich. Aber sie ist kein Garant, dass die Dinge klappen. Und wenn ich fest an diese Verbindung glaube, habe ich ein doppeltes Problem, wenn es schiefgeht. Dann fühle ich mich womöglich erst recht als Versager, wenn ich zum Beispiel die Stelle nicht bekomme. Denn dann bin ich ja anscheinend selber daran schuld, weil ich eben nicht positiv genug gedacht habe. Diese Denkweise fördert eben nicht das Selbstmitgefühl und hilft nicht, die Situation wirklich zu reflektieren.
Zum Schluss noch eine Grundsatzfrage: Ist es eigentlich nötig, dass ich alles an mir akzeptiere? Bedeutet Selbstakzeptanz, dass ich nichts an mir ablehnen darf?
Wir dürfen durchaus selbstkritisch sein, das ist sogar gut. Sonst entwickeln wir uns ja nicht weiter. Selbstakzeptanz heisst nicht, dass wir bleiben müssen, wie wir sind. Wir können uns fragen: Woran möchte ich arbeiten, was will ich erreichen, und wie komme ich dahin? Wir müssen dabei aber nicht perfekt werden. Wichtig ist, auch ans Selbstmitgefühl zu denken, wenn es einmal nicht klappt. Aber wir dürfen gern den Wunsch haben, uns fortzuentwickeln.
Ein Artikel aus der «»