Argentinien hat begonnen, die USA haben nachgezogen, und nun wagt selbst die EU erste Schritte beim Bürokratieabbau. Was bedeutet das für die Schweiz?
Öffentliche Verwaltung und Bürokratie – wer hätte gedacht, dass diese Themen einmal für grosse Emotionen sorgen. Natürlich, die jüngste Aufmerksamkeit hat mehr mit den brachialen Metaphern als mit dem Inhalt zu tun. So wurde viel über die Kettensäge von Javier Milei und Elon Musk geschrieben. Dass in deren Windschatten selbst die EU erste Schritte zum Bürokratieabbau unternommen hat, ging derweil etwas unter – ist für die Schweiz aber fast noch bedeutender.
So hat der Regulierungseifer bei unseren Nachbarn über die vergangenen Jahre ein erstaunliches Mass angenommen. Gerade hierzulande hat man sich dabei manchmal verdutzt die Augen gerieben. Der wirkmächtigste «PR-Coup» in Sachen Regulierung war wohl der neue PET-Flaschen-Verschluss mit fixiertem Deckel. Ja, Regulierungen wirken sich auf unseren Alltag aus, doch nicht immer sind die Auswirkungen derart offensichtlich.
Überschiessende Berichterstattungspflichten für Firmen
Für viele weit weniger sichtbar waren die Regulierungen der EU im Bereich der Nachhaltigkeitsberichterstattung. Dabei wurde teilweise weit über das Ziel hinausgeschossen. So hätten bald selbst KMU jährlich Hunderte von Datenpunkten neu erheben und rapportieren müssen. Das war nun aber selbst der EU-Kommission zu viel: Sie hat daher mit dem sogenannten «Omnibus-Paket» vor kurzem eine umfassende bürokratische Entlastung beschlossen.
Noch ist das Omnibus-Paket nicht verabschiedet. Doch etwas ist bereits jetzt klar: Auf beiden Seiten des Atlantiks wurde realisiert, dass in den vergangenen Jahrzehnten bei Regulierung und Bürokratie überbordet wurde. Es ist eine Botschaft, die in der Schweiz noch kaum angekommen ist. Und das, obwohl auch hierzulande die Entwicklung bedenklich ist.
So hat das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) die Bürokratiekosten bei Schweizer KMU berechnet. Die Zahl ist enorm: Die Kosten belaufen sich mittlerweile auf über 6 Milliarden Franken pro Jahr, das ist mehr, als unser Land derzeit für die Landesverteidigung ausgibt. Parallel zur steigenden Regelungsdichte ist auch der öffentliche Sektor gewachsen, und zwar überproportional zum privaten Sektor. In diversen Schweizer Städten wächst die öffentliche Verwaltung deutlich schneller als ihre Bevölkerung: In Basel, Bern und Zürich ist die Zahl der Stellen seit 2011 um jeweils mehr als 20 Prozent gestiegen.
Zürich lässt kritischen Bericht in Schublade verschwinden
Dieses überproportionale Stellenwachstum deutet darauf hin, dass Strukturen in der öffentlichen Verwaltung nicht konsequent dem gesellschaftlichen und technologischen Wandel angepasst werden. In der Stadt Zürich hat das sogar vor ein paar Jahren eine intern in Auftrag gegebene Überprüfung schwarz auf weiss festgehalten. Der Bericht schrieb von «Unklarheiten, Duplikationen und Ineffizienzen». Dessen ungeachtet zeigte sich die städtische Politik nicht wirklich gewillt, die Probleme anzupacken. Braucht es also doch den Griff zur Kettensäge?
Nein, mit solchen Hauruckübungen ist im funktionierenden Schweizer Staatswesen keinem geholfen. Allerdings hilft es auch niemandem, nun einfach genüsslich das teilweise schrille Treiben im Ausland zu kommentieren. Wir haben auch hierzulande ein Problem. Die Bürokratie ist sehr teuer geworden, und die Verwaltung wächst übermässig. Bei beiden Themen sind daher pflichtbewusste Politiker gefordert, sich an die anstrengende Arbeit des Ausmistens zu machen.
Löschwoche könnte Prozess beschleunigen
Um die Politik bei dieser undankbaren Tätigkeit zu unterstützen, wurde jüngst die Idee einer Personalbremse für den öffentlichen Sektor vorgebracht. Ebenfalls Abhilfe schaffen könnte eine «Löschwoche»: Ähnlich einem Frühlingsputz sollte jedes Jahr eine Sessionswoche ausschliesslich für das Entrümpeln überholter Strukturen genutzt werden, also für den Bürokratieabbau und die Verwaltungsreorganisation. Diese Arbeit würde idealerweise von einer parlamentarischen Kommission vorbereitet und mit einer Bürgerbeteiligung kombiniert werden: Jeder und jede soll Ideen über ein Online-Formular einbringen können.
Ein solcher Frühlingsputz würde sich in die traditionell pragmatische Vorgehensweise der Schweiz einreihen. Im Ausland hiess es vor rund hundert Jahren: «Mit Hammer, Sichel und Gewehr: Schafft den Kommunismus her». Die Antwort in der Schweiz war dann eine bessere soziale Sicherung, die mit Institutionen wie der AHV verankert wurde. Nun wird im Ausland mit der Kettensäge das radikale Zurückstutzen des Staates gefordert. Wiederum tut die Schweiz gut daran, auf einen umsichtigen, institutionellen Ansatz zu setzen. Eine Löschwoche wäre eine solche gutschweizerische Lösung – und mit der Bürgerbeteiligung sogar mit einem direktdemokratischen Element.
Jürg Müller ist Direktor des Think-Tanks Avenir Suisse.
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