Die Migration des modernen Menschen fand in den vergangenen
200 000 Jahren nur in bestimmten Phasen stattfand: immer dann, wenn die Wüste sich zur Savanne wandelte.
Aus heutiger Perspektive mutet sie zielstrebig und rasant an: die Verbreitung der anatomisch modernen Menschen aus ihrem Ursprungskontinent Afrika hinaus in alle Weltgegenden. Vor rund 70 000 Jahren waren sie im heutigen Ägypten angekommen, der Landbrücke zu den anderen Kontinenten. Vor 60 000 Jahren lebten sie bereits in Südostasien und Australien, vor 45 000 Jahren dann in Europa.
«Das ist nur zu schaffen, wenn man entweder ein Ziel verfolgt oder wenn es Korridore gibt, die die Ausbreitung kanalisieren», sagt der Archäologe Jürgen Richter. Dass unsere Vorgänger einen bewussten Plan verfolgten, dürfte reine Science-Fiction sein. Doch der Hypothese mit den Korridoren gehen Forscher in aller Welt nach.
In den Warmphasen wurde Nordafrika grün
Tatsächlich haben Archäologen und Klimatologen unabhängig voneinander gezeigt, dass die Wüsten im Nordosten Afrikas in den vergangenen 200 000 Jahren nicht durchgehend so lebensfeindlich waren wie heute.
Felsbilder am Rand des Grossen Sandmeers im Südwesten Ägyptens zeigen neben Elefanten, Antilopen und Giraffen auch schwimmende Menschen. Bohrkerne aus existierenden oder bereits ausgetrockneten Seen im Inneren der Wüste geben Hinweise auf eine grüne Sahara: Zu manchen Zeiten gab es in Nordafrika statt Sanddünen Savannen, in denen Wildtierherden und Menschen leben konnten.
Solche Korridore konnten die anatomisch modernen Menschen aus Afrika herausleiten – und sie taten das mehrfach. Denn nicht nur in Nordafrika war es zeitweise feuchter: Die Savanne erstreckte sich über den Sinai bis in den Vorderen Orient.
So hatten es schon eine Warmphase früher, vor 130 000 und 120 000 Jahren, anatomisch moderne Menschen bis in die Region Palästina geschafft. Sehr dauerhaft waren diese Korridore jedoch nie. «Sie existierten jeweils nur ein paar Jahrtausende, aber auch so boten sie eine Gelegenheit», sagt der Geograf Frank Schäbitz, der wie der Archäologe Richter an der Universität Köln im Sonderforschungsbereich «Unser Weg nach Europa» tätig war.
Klar scheint: Etwa zeitgleich zur Abfolge von Kalt- und Warmzeiten auf der Nordhemisphäre haben sich in Afrika und dem Nahen Osten Feucht- und Trockenphasen abgewechselt und solche Korridore geschaffen. Die Ausbreitung des Menschen aus Afrika heraus ist insgesamt wesentlich komplexer und auch zufallsabhängiger gewesen, als sie rückblickend erscheinen mag.
Weil ein Wald im Weg war, zog der Homo sapiens zuerst nach Asien
«Wir haben auf jeden Fall mehrere Wanderungswellen, und die frühen sind nicht alle erfolgreich gewesen», sagt Jürgen Richter. Das haben zum Beispiel genetische Untersuchungen in den vergangenen Jahren sehr eindrücklich nachgewiesen.
Paläontologen, Archäologen und Klimaforscher liefern jetzt Hinweise auf die Ursachen. So machten die Feuchtphasen in Afrika die Wüste passierbar, schufen dafür aber in der nördlichen Levante, also in den Gebieten am östlichen Rand des Mittelmeers, ein neues Hindernis. «Der Norden Israels, das Libanongebirge, Syrien und auch die Türkei waren dicht bewaldet, und dadurch existierte eine Barriere auf dem Weg nach Europa», sagt der Paläobotaniker Thomas Litt von der Universität Bonn, auch er ein Mitglied des Sonderforschungsbereichs.
Deshalb bogen die anatomisch modernen Menschen zuerst nach Osten in Richtung Asien und Australien ab und fanden erst in einer späteren Welle den Weg nach Norden in Richtung Europa. Dieser Korridor öffnete sich, als die Feuchtphase durch trockenes Klima, ähnlich dem heutigen, abgelöst wurde.
Eine kleine Gruppe wurde zu den Stammeltern aller nicht-afrikanischen Menschen
Das war spätestens vor 50 000 Jahren der Fall. Die Trockenheit verwandelte den dichten Wald im Norden der Levante in offene Steppen und schloss dafür die «grünen Korridore» von Afrika bis in den Sinai. Die Menschen, die sich zu dieser Zeit in der Levante befanden, kamen nicht mehr zurück und konnten nur noch vor Ort bleiben oder nach Norden ziehen.
«Das waren sicherlich nur kleine Gruppen, denn 99 Prozent der damaligen Menschen verliessen Afrika ja gar nicht», erklärt der britische Paläoanthropologe Robert Foley von der Universität Cambridge. «Für diese kleinen Gruppen war die Levante aber gar keine Landbrücke zu irgendetwas Unbekanntem, sondern schlicht das Land, auf dem sie lebten.»
Diese Populationen wurden die Stammeltern aller nicht-afrikanischen Menschen. Das erklärt, warum sie genetisch so viel gleichförmiger sind als die Afrikaner.
Das Alternativmodell: Verbreitung über Flusstäler
Neben diesem Modell verfolgt die Wissenschaft auch eine konkurrierende Vorstellung von «blauen Autobahnen». Statt in den Feuchtphasen könne die Verbreitung gerade in den Trockenzeiten gelungen sein, weil sich den Menschen ein Weg durch Flusstäler mit ihren Wasserlöchern geboten hätte.
«Wir haben gesehen, dass die Menschen damals an besondere Trockenheit adaptiert waren. Warum sollten sie sich also zu solchen Zeiten nicht auch ausgebreitet haben?», erklärt John Kappelman von der Universität Texas in Austin, der seit 2002 eine steinzeitliche Fundstätte am Shinfa, einem Nebenfluss des Blauen Nil, ausgräbt.
Die Anpassung bestand in einer Erweiterung des Speiseplans auf Fisch aus den Wasserlöchern, zu denen der Shinfa in der Trockenzeit verkümmerte. «Daraus entstand die Idee, dass die Flüsse in Trockenzeiten Wanderungskorridore bilden könnten», so Kappelman.
Kulturelle Entwicklungen verschafften dem Menschen einen Wettbewerbsvorteil
Bleibt die Frage, was die Menschen überhaupt zum Wandern angeregt hat. War es die günstige Gelegenheit, wie bei den «grünen Korridoren», war es die schiere Not, wie bei den «blauen Autobahnen», oder waren es gar Neugierde und Entdeckungslust? Die Indizien aus Grabungen oder Bohrkernen schweigen darüber, daher lässt sich hervorragend streiten.
Die naturwissenschaftlich geprägte Fraktion denkt biologistisch: Der Jäger folgt seiner Beute und landet daher früher oder später auf der Landbrücke nach Asien und Europa. Anthropologen und Archäologen sehen im Menschen dagegen einen Sonderfall, der dank seiner kulturellen Entwicklung nicht nur den Vorgaben seiner aktuellen ökologischen Nische folgen musste.
Auch Modellierungen des Zentrums für Klimaphysik am Institute for Basic Science (IBS) im südkoreanischen Busan stützen diese Interpretation. Sie zeigen, dass Kultur einen Wettbewerbsvorteil verschafft. Der Institutsdirektor Axel Timmermann sagt: «Wir sehen tatsächlich eine positive Feedback-Schleife: Eine höhere Kulturstufe führt dazu, dass man sich mehr Nahrungsquellen nutzbar machen kann. Dadurch kann ein Ökosystem eine grössere Bevölkerung ernähren, die wiederum die Kulturleistungen steigern kann.»
Zunehmend hätte damit die kulturelle Entwicklungsstufe der Menschen darüber entschieden, ob die Ausbreitungswellen erfolgreich waren oder nicht. Das könnte auch für einen anderen Aspekt entscheidend sein: die Begegnungen mit anderen Menschenarten wie dem Neandertaler – die bekanntlich am Ende zugunsten des anatomisch modernen Menschen ausgingen.