Das Buch «Kapitalismus und Marktwirtschaft» liefert erhellende Lösungsansätze zur Lösung des «Too Big to Fail»-Problems sowie zur Steigerung der allgemeinen Robustheit des Wirtschaftssystems.
«Der Kapitalismus wird missverstanden. Dieses Buch will ein besseres Verständnis des Kapitalismus vermitteln, um seine zunehmenden Probleme an den Wurzeln zu packen.»
Mit diesen Worten beginnt «Kapitalismus und Marktwirtschaft», eine faszinierende Achterbahnfahrt durch die Wirtschaftsgeschichte, die sich mit einer zentralen Frage befasst: Wie kann das krisenanfällige Wirtschafts- und Finanzsystem der heutigen Zeit robuster und sicherer gestaltet werden? Nicht zuletzt seit dem – vermeidbaren – Untergang der Credit Suisse ist diese Frage auch in der Schweiz von höchster Relevanz.
Der Name des Autors, «Jonathan McMillan», ist ein Pseudonym. Dahinter verbergen sich Jürg Müller, seit 2023 Direktor des Think Tanks Avenir Suisse, sowie ein Banker, der anonym bleibt. Die Beiden hatten 2014, im Nachgang der globalen Finanzkrise, mit dem Buch «Das Ende der Banken – Warum wir sie nicht brauchen» bereits auf sich aufmerksam gemacht. Jürg Müller ist ein herausragender liberaler Denker – womit klargestellt ist, dass sein Werk alles andere als eine plumpe Kapitalismuskritik ist.
Tanz mit dem Teufel
Das Buch beginnt, indem es ein gängiges Missverständnis adressiert. Typischerweise werden die Begriffe «Marktwirtschaft» und «Kapitalismus» synonym behandelt. Doch während sich die Marktwirtschaft über Tausende Jahre über den Handel von Waren und die Etablierung von Eigentumsrechten entwickelt hat, ist der Kapitalismus historisch betrachtet ein junges Phänomen: Er ist erst vor rund 300 Jahren mit den kolonialen Handelsgesellschaften entstanden.
Der erste Teil des Buches befasst sich mit der Entstehungsgeschichte der heute herrschenden Wirtschaftsordnung. Die knapp 50 Seiten sind ein Meisterwerk der Abstraktion; in klaren Worten wird beschrieben, was Märkte sind, was unter «Kredit», «Kapital» und «Geld» zu verstehen ist und warum die Erfindung des Bankwesens als «Akt der Alchemie» gilt.
Die Entstehung der Kapitalgesellschaften im 17. Jahrhundert war ein Geniestreich, weil damit die Risiken und Eigentumsrechte der Kapitalgesellschaft von jenen ihrer Eigentümer getrennt blieben. Diese «Vermögenspartitionierung» bildete die Grundlage für den Aufbau eines grossen Kapitalstocks, da das Eigentum an einer Kapitalgesellschaft auf viele verschiedene Personen verteilt werden konnte, die sich nicht zwangsläufig kennen und vertrauen müssen.
Dass der Siegeszug der Kapitalgesellschaft – die Unternehmensform, die wir heute als «normal» erachten – keineswegs vorgespurt war, zeigt folgende Anekdote: Der Moralphilosoph Adam Smith, der als Vater der liberalen Ökonomie verehrt wird, sah die Kapitalgesellschaften kritisch. Er wies darauf hin, dass die Trennung von Eigentum und Kontrolle zu Problemen führt, beispielsweise den Interessenkonflikt zwischen Investoren und der Geschäftsführung einer Kapitalgesellschaft.
Als Fanal – sie nennen es den «Beginn des Tanzes mit dem Teufel» – sehen die Autoren die Gründung der Bank of England am 27. Juli 1694: Das war der Tag, an dem das Bankgeschäft mit der Unternehmensform der Kapitalgesellschaft verschmolzen wurde. «Die Auswirkungen davon sind bis zum heutigen Tag zu spüren», folgern sie. Denn das Bankwesen ist von Natur aus fragil. Und wenn der – von Adam Smith fast 100 Jahre später kritisierte – Interessenkonflikt zwischen Investoren und Managern im Bankwesen eingeführt wird, droht Unheil.
«No Bailout»-Versprechen funktionieren nicht
Im zweiten Teil des Buches zeigen die Autoren auf, wie die Einführung der Kapitalgesellschaft im Bankwesen einen «Boom & Bust»-Zyklus begünstigte, der bis heute anhält. «In einer kapitalistischen Finanzarchitektur werden systemische Risiken geschaffen, die sich von Zeit zu Zeit materialisieren und zu Krisen führen. Am Ende dreht sich damit noch immer alles um den faustischen Pakt, der vor mehr als 300 Jahren geschlossen wurde», schreiben Müller und sein Co-Autor.
Die seit der Finanzkrise von 2008 oft gehörte Aussage, es dürfe nie mehr geschehen, dass Banken von Staaten gerettet werden, zerpflücken die Autoren ebenfalls mit einem Blick in die Historie. «No Bailout»-Versprechen wurden in der 300-jährigen Geschichte des kapitalistischen Bankwesens immer wieder abgegeben – und in jeder Krise gebrochen. «Die Finanzmarktteilnehmer sind sich dieser Dynamik bewusst, weshalb sie den ‹No Bailout›-Versprechen nicht glauben», schreiben die Autoren.
Was ist die Lösung?
Reale vs. finanzielle Vermögenswerte
Die Autoren beginnen mit der Feststellung, dass eine Kapitalgesellschaft auf individueller Basis entweder solvent – ihr Vermögen ist grösser als ihre Verbindlichkeiten – oder insolvent sein kann.
Doch für das Gesamtsystem reicht das nicht. Das Konzept der individuellen Solvenz müsse mit einer Betrachtung der systemischen Solvenz ergänzt werden. Und dazu wiederum müsse unterschieden werden, ob die Vermögenswerte in der Bilanz einer Kapitalgesellschaft «realer» oder «finanzieller» Natur sind. «Finanzielle Vermögenswerte» werden so definiert, dass sie mindestens zwei Bilanzen von Kapitalgesellschaften miteinander verbinden. Ein Beispiel: Ein Kredit, den Bank A an die Gesellschaft B vergeben hat, taucht in der Bilanz der Bank A als finanzieller Vermögenswert und in der Bilanz der Gesellschaft B als Verbindlichkeit auf.
Die Unterscheidung zwischen «realen» und «finanziellen» Vermögenswerten ist deshalb zentral, weil Letztere das Potenzial haben, finanzielle Schocks weiterzutragen, da sie Bilanzen verschiedener Kapitalgesellschaften miteinander verbinden. Und da die Aktivseite der Bilanz von Banken in besonderem Ausmass aus finanziellen Vermögenswerten besteht, ist die Ansteckungsgefahr im Bankwesen besonders gross.
Weitergeführt bedeutet der von den Autoren vorgeschlagene Ansatz der «systemischen Solvenz», dass eine Kapitalgesellschaft alle finanziellen Vermögenswerte in ihrer Bilanz mit Eigenkapital finanzieren muss, um systemisch solvent zu sein. «Eine systemische Solvenzregel stellt sicher, dass der Abstand zwischen den Dominosteinen so gross ist, dass, wenn einer fällt, er keinen anderen umwerfen kann», schreiben die Autoren.
Auf diese Weise lässt sich das Wirtschaftssystem zwischen systemisch solventen und systemisch insolventen Kapitalgesellschaften unterteilen. Erstere schaffen keine systemischen Risiken und sind daher unproblematisch. Geraten sie in Schwierigkeiten, können sie untergehen. Systemisch insolvente Kapitalgesellschaften jedoch, und zu ihren gehören die meisten Banken, beispielsweise aber auch Energiehandelskonzerne, steigern die Fragilität des Gesamtsystems. Deshalb werden sie einer spezifischen Regulierung unterstellt und erhalten dafür explizit Zugang zum vom Staat gestellten Sicherheitsnetz.
«Systemische Risiken waren nie ein Problem der Marktwirtschaft», schliessen die Autoren. Vielmehr seien sie durch den Aufstieg der Kapitalgesellschaften entstanden. «Unsere Vorschläge dürfen daher nicht als Eingriff in die Marktwirtschaft interpretiert werden. Die Einführung einer systemischen Solvenzregel ist eine überfällige Reform der kapitalgesellschaftlichen Rechtsform.»
Dichte, verständliche Sprache
«Kapitalismus und Marktwirtschaft» bedient sich einer überaus dichten, einfach verständlichen Sprache. Der Anspruch der Autoren, das Thema auf weniger als 150 Seiten auszubreiten, ist gelungen. Das umfangreiche Literaturverzeichnis ist eine Fundgrube.
Als einzige Kritik ist anzumerken, dass die Autoren zum Teil etwas zu viel abdecken wollten. Die Herausforderungen der modernen Geldpolitik und der digitalen Revolution im Finanzwesen werden ebenso angeschnitten wie das spezifische Problem der Europäischen Währungsunion, die durch ihre Konstruktion besonders krisenanfällig ist. Diese Kapitel hätten vertieft werden können.
Insgesamt bietet «Kapitalismus und Marktwirtschaft» aber einen wertvollen, erhellenden Diskussionsbeitrag zu den Problemen der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung und besonders zur inhärenten Krisenanfälligkeit des Banking. Das Buch verdient Aufmerksamkeit.