Etimad al-Mukaya
«Mein Laden war der schönste in der ganzen Nachbarschaft», sagt die 36-Jährige. Sie erzählt, wie Frauen und Mädchen aus allen Gesellschaftsschichten hier Schminke, Hautcrèmes und Parfums gekauft hätten. «Als mein Mann und ich dieses Geschäft eröffneten, war das der Höhepunkt meines Glücks.» Von den sechs Filialen ihres Unternehmens sei diese ihre liebste gewesen, denn in der Omar-al-Mukhtar-Strasse habe sie sich immer am wohlsten gefühlt.
Schon als Jugendliche sei sie jeden Donnerstag mit ihren vier Schwestern hierhergekommen, um einen Laden nach dem anderen zu besuchen. «Die Leute nannten uns ‹die Wanderer›», erzählt sie. «Jeder Ort auf dieser Strasse bringt Erinnerungen zurück, besonders an meine jüngste Schwester, die im Krieg getötet wurde.»
Etimad al-Mukaya hat nicht nur ihre Schwester, sondern auch eines ihrer vier Kinder verloren. Ihr Sohn Mohammed wurde bei einem israelischen Luftangriff getötet, den sie selbst nur knapp überlebte. «Ich habe Mohammeds Kleider aufbewahrt. Jedes Mal, wenn wir in den vergangenen Monaten vertrieben wurden, nahm ich sie mit. Ich will seine Anwesenheit spüren», sagt sie. Wie die meisten Palästinenser im Gazastreifen musste auch Mukaya mehrfach vor den Kampfhandlungen fliehen.
Mukaya sagt, sie denke derzeit nicht darüber nach, ihren Laden wieder aufzubauen: «In den nächsten fünf Jahren sehe ich mich nicht im Gazastreifen. Ich will an einen Ort gehen, der für mich und meine Kinder sicher ist, fernab von der Angst, dem Töten, dem Hunger und der Zerstörung.»
Seit dem Ende der Waffenruhe am 18. März fallen im Gazastreifen wieder die Bomben, Israel rückt erneut mit Truppen vor. Die Hamas, die diesen Krieg mit ihrem Massaker am 7. Oktober 2023 begonnen hatte, macht bis jetzt keine Anstalten, ihre Waffen niederzulegen und die israelischen Geiseln freizulassen.
Und bald schon könnte alles wieder anders werden: Israel will seine Offensive demnächst massiv ausweiten, den Gazastreifen besetzen und die gesamte Zivilbevölkerung in einem kleinen Gebiet im Süden sammeln, falls bis zum Ende von Donald Trumps Besuch in der Region am 16. Mai keine neue Waffenruhe vereinbart werden kann. Unter diesem Plan würde die gesamte Stadt Gaza evakuiert.
Das Parlamentsgebäude war eines der Machtsymbole der Hamas, die den Gazastreifen seit 2007 mit eiserner Faust regiert. Israel hat sich zum Ziel gesetzt, die islamistische Terrororganisation nicht nur militärisch zu zerstören, sondern auch ihre politische Macht im Gazastreifen zu brechen. Dies könnte allerdings noch lange dauern. Inzwischen verfolgt Israel den von Donald Trump inspirierten Plan, Palästinenser zur «freiwilligen Emigration» zu bewegen. Doch für viele kommt eine Ausreise nicht infrage.
Eman al-Khatib
«Wir werden nicht zulassen, dass wir zum Gehen gezwungen werden», sagt die 13-jährige Eman al-Khatib, die an diesem Tag unweit vom zerstörten Parlamentsgebäude auf der Strasse unterwegs ist. Mit dem Idealismus eines Kindes sagt sie: «Wir werden Gaza wieder aufbauen, bis es schöner als Paris sein wird!»
Im Januar kehrte Eman al-Khatib in den Norden zurück – und fand ihr Elternhaus zerstört vor. Sie erinnert sich an diesen Moment: «Ich setzte mich hin und weinte. Ich trauerte um das Haus, um diese Strasse und um meine Erinnerungen.» Die Familie lebt nun erneut in einem Zelt, unten am Hafen von Gaza. Später einmal wolle sie an einer Universität in Gaza studieren und wie ihre Mutter Anwältin werden, sagt sie. «Ich will jemand sein, der von niemandem gebrochen werden kann. Ich werde Gaza nie verlassen!»
Die meisten Universitäten im Gazastreifen sind allerdings zerstört. Wenn der Krieg dereinst endet, dürfte es Jahre dauern, bis die Kriegsschäden beseitigt sind. Auch entlang der Omar-al-Mukhtar-Strasse liegen zahlreiche öffentliche Gebäude in Trümmern.
Raed al-Harazin
Der 45-Jährige ist einer der wenigen, der nach Kriegsbeginn trotz Evakuierungsbefehlen der israelischen Armee in Gaza verblieben war. Seine Frau, seine drei Töchter und sein Sohn waren schon im November 2023 in den Süden geflohen – doch Harazin blieb allein zurück. Er habe sein Eigentum beschützen wollen, sagt er. Mehrere Male sei er in dieser Zeit nur knapp dem Tod entkommen, zwei Mal sei er von israelischen Soldaten festgehalten und befragt worden.
Nach elf Monaten entschloss auch er sich zur Flucht in den Süden. Er erinnert sich: «Mein Sohn rief mich an und sagte: ‹Was machst du allein in Gaza? Die Väter meiner Freunde sind auch alle hier.› Also bin ich gegangen.» Doch nach Beginn der Waffenruhe im Januar kehrte er umgehend zurück. «Ich sagte damals den anderen, sie sollten sich nicht zu sehr auf die Rückkehr freuen. Trotzdem waren dann alle schockiert. Sie hatten Gaza noch nie in diesem Zustand gesehen.»
Das sei doch das Ziel der Israeli, sagt er. «Sie wollen sich an uns rächen und uns alle vertreiben.» Israels Regierung betont zwar stets, sie wolle lediglich die «freiwillige Emigration» von Palästinensern ermöglichen – doch von Freiwilligkeit kann unter diesen Umständen kaum gesprochen werden. Dennoch sagt auch Harazin: «Wenn ich die Chance habe, an einen besseren Ort zu gehen, werde ich sie ergreifen. Nicht für mich, sondern für die Zukunft meiner Kinder.»
In diesem Krieg habe sich alles verändert, auch die Menschen. «Sie gehen, als wären sie betrunken. Sie sind noch nicht aus dem Schock erwacht.» Zwischen den Menschen gebe es keine Wärme, keine Güte mehr. «Sie haben nicht mehr die Kraft, weitere Belastungen auszuhalten.»
Quellen
Interviews: Malak Tantesh
Video, Fotos: Enas Tantesh
Organisation: Amjed Tantesh
Video vor dem Krieg: Fuad Abu Jasser
Umsetzung
Konzept: Jessica Eberhart und Adina Renner
Recherche: Jessica Eberhart
Projektleitung: Adina Renner
Text: Jonas Roth
Entwicklung: Kaspar Manz
Bildredaktion: Gilles Steinmann
Videobearbeitung: Florentin Erb
Bildbearbeitung: Simone Imhof