Der Historiker William Dalrymple plädiert in «The Golden Road» dafür, dass endlich der Beitrag Indiens zur kulturellen Entwicklung der Welt anerkannt wird. In Indien ist das Buch ein Bestseller. Antike Geschichte ist dort ein Politikum.
Der italienische Mathematiker Leonardo Fibonacci war begeistert, als er 1185 bei einem Aufenthalt in Algerien erstmals von den indischen Zahlen erfuhr. An der mathematischen Schule von Bejaia sei er eingeführt worden «in die wundervolle Lehrmethode, welche die neun Zahlen Indiens verwendet», schrieb Fibonacci später in der Einleitung seines bahnbrechenden Werkes «Liber Abaci». «Mit dem Zeichen 0, welches die Araber sefir nennen, kann jede beliebige Zahl geschrieben werden. Diese Entdeckung erfreute mich mehr als jede andere.»
Die Europäer nutzten damals noch immer die römische Zahlschrift, die lateinische Buchstaben zur Darstellung der Zahlen verwendet. Das indische System, in dem jedem Wert eine Zahl zugeordnet ist, war zwar in der arabischen Welt schon lange verbreitet, doch in Europa nur wenigen Gelehrten bekannt. Erst Fibonaccis «Liber Abaci» änderte dies. Dank der Förderung durch den Stauferkaiser Friedrich II. fand das mathematische Lehrbuch weite Verbreitung in Europa.
Die Übernahme des indisch-arabischen Zahlensystems und anderer indischer Innovationen in Geometrie und Algebra sollte sich als revolutionär erweisen – nicht nur für die Mathematik, sondern auch für die Buchhaltung und das Finanzwesen in Europa. Die Vorteile der indischen Zahlen waren so klar, dass sie sich bald durchsetzten. «Sie sind wohl das Nächste, was die Menschheit zu einer universellen Sprache hat», schreibt dazu der britische Historiker William Dalrymple.
«Indosphäre» nennt Dalrymple Indiens kulturelle Einflusszone
Wie die indischen Zahlen und das Konzept der Null über die Araber nach Europa gelangten, gehört zu den faszinierendsten Geschichten, die Dalrymple in seinem Buch «The Golden Road: How Ancient India Transformed the World» erzählt. Er zeigt darin eindrücklich auf, wie die indische Kultur in der Antike weit über den Subkontinent hinaus ausstrahlte und über Jahrhunderte die Entwicklung von Astronomie, Mathematik und Medizin sowie Religion, Sprache, Literatur und Kunst von Europa bis nach Ostasien entscheidend prägte.
Diese kulturelle Einflusszone nennt Dalrymple die «Indosphäre». «Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt heute in Gebieten, in denen Indiens religiöse und kulturelle Ideen dominant sind oder es einst waren und in denen Indiens Götter die Vorstellungen und die Sehnsüchte der Männer und Frauen bestimmten», schreibt Dalrymple. Noch heute zeugten zahlreiche Ortsnamen in Kambodscha, Indonesien und Thailand vom kulturellen Einfluss Indiens.
Die Handelsrouten über den Indischen Ozean sind die titelgebende Golden Road, über die sich mit den Monsunwinden nicht nur die Waren, sondern auch die Ideen ausbreiteten. In seinem Buch legt Dalrymple den Fokus weniger auf Feldherren und Herrscher als vielmehr auf heilige Männer, Gelehrte und Händler. Nicht mit dem Schwert, sondern mit der Überzeugungskraft seiner Ideen habe Indien die Welt erobert, argumentiert Dalrymple. So breitete sich der Buddhismus über Zentralasien bis nach China und Japan aus, später erreichte der Hinduismus in Südostasien dann eine neue Blüte.
Dalrymple hat den Blick der Briten auf Indien verändert
Dalrymple ist von Indien und seiner Geschichte fasziniert, seitdem er das Land als junger Mann erstmals bereist hat. Der 59-Jährige entstammt einer alten schottischen Adelsfamilie, die eng mit dem britischen Kolonialreich in Indien verbunden war. Schon mit seinen ersten Reisebüchern «City of Djinns» und «The Age of Kali» bewies er sein erzählerisches Talent und sein Gespür dafür, in den Hinterhöfen von Alt-Delhi und den Palästen früherer Maharadschas skurrile Charaktere und faszinierende Geschichten aufzutun.
Seine Begegnungen reicherte er mit historischem Wissen an, und er verdichtete sie in Reportagen, die ebenso kenntnisreich wie schwungvoll geschrieben waren. Später widmete er sich mit Büchern wie «White Mughals», «Return of a King» und «The Anarchy» der britischen Kolonialgeschichte in Indien. Seit 2022 nimmt er mit der Journalistin Anita Anand zudem den Podcast «Empire» zur Geschichte des britischen Imperiums und anderer untergegangener Grossreiche auf.
Dalrymple, der seit vielen Jahren am Rande von Delhi lebt, ist als Historiker und Intellektueller in Indien eine feste Grösse. Er gehört zu den Mitbegründern des Literaturfestivals von Jaipur und schreibt regelmässig in indischen Zeitungen. Indien hat sein Leben geprägt, und Dalrymple hat mit seinen Büchern und Podcasts den Blick der Briten auf Indien und ihre eigene Vergangenheit verändert. Mit seinem neusten Buch «The Golden Road» betritt er nun Neuland, da er damit die Moderne verlässt und sich erstmals der Antike zuwendet.
«The Golden Road» ist ein unwahrscheinlicher Bestseller
In Indien hat Dalrymples Buch ein grosses Echo gefunden. Nach der Veröffentlichung im September blieb es über Monate auf Platz eins der Sachbuch-Bestseller-Liste. In vielen Buchläden liegt «The Golden Road» gleich am Eingang aus. Fast alle englischsprachigen Zeitungen haben lange, begeisterte Rezensionen gebracht. «Das moderne Indien hat seine antike Geschichte nicht gut erzählt, weder sich selbst noch der Welt – diese Aufgabe vollbringt nun William Dalrymples Buch», heisst es anerkennend in der «Hindustan Times».
Der Erfolg ist bemerkenswert. Mehr als ein Drittel des Buches besteht aus Fussnoten und Bibliografie, und auf weiten Strecken dreht es sich um archäologische Funde, Felsreliefs und Höhlenklöster. Doch Dalrymple ist ein ebenso packender wie eleganter Erzähler, der es schafft, seine Charaktere und Schauplätze zum Leben zu erwecken. Trotz der oft dürftigen Quellenlage ist sein Buch voller spannender Anekdoten, dramatischer Ereignisse und faszinierender Details.
Sein Buch findet aber wohl auch deshalb in Indien so grossen Anklang, weil es ein Land ins Zentrum rückt, das in der klassischen, westlichen Geschichtsschreibung nur eine Nebenrolle spielt. Indem er Indien als zentralen Pol der Weltgeschichte präsentiert, der in der Antike einen wichtigen Beitrag zur kulturellen Entwicklung geleistet hat, stellt er die eurozentrische Erzählung infrage, gemäss der die moderne Zivilisation allein auf die griechisch-römische Welt zurückgeht.
Die Geschichte ist in Indien hart umkämpft
Dies passt gut zum postkolonialen Trend in der Geschichtswissenschaft, die westliche Perspektive auf die Welt kritisch zu hinterfragen. Dalrymples Buch passt aber auch zu den Bemühungen der regierenden Hindu-Nationalisten von Narendra Modi, der antiken Geschichte Indiens mehr Geltung zu verschaffen. Für die Hindu-Nationalisten ist die Antike das goldene Zeitalter Indiens. Mit der muslimischen Eroberung im 13. Jahrhundert begann aus ihrer Sicht der Niedergang Indiens und eine lange Phase der Fremdherrschaft.
Für die Hindu-Nationalisten sind die muslimischen Herrscher nicht weniger Kolonisatoren als die Briten, die Indien bis zur Unabhängigkeit 1947 beherrschten. Sie beklagen seit langem, dass die indische Geschichtsschreibung den Fokus zu sehr auf die islamische Periode des Mogulreichs lege, während die antiken Hindu-Grossreiche der Mauryas und Guptas in Nordindien, die südindische Chola-Dynastie oder das Vijayanagar-Reich nicht ausreichend gewürdigt würden.
Schon wiederholt gab es Streit, weil die Regierung Modi die Schulbücher ändern liess, um ihre Sicht der Geschichte durchzusetzen. Gefragt in einem Interview, ob er nicht befürchte, dass sein Buch von den Hindu-Nationalisten als Bestätigung ihrer Sicht verwendet werde, antwortete Dalrymple, keiner politischen Gruppe dürfe erlaubt werden, eine ganze Phase der Geschichte zu vereinnahmen. Nur weil sich jemand mit dem antiken Indien befasse, sei er noch kein Hindu-Nationalist.
Dalrymple will eine Leerstelle der Geschichte füllen
Tatsächlich steht Dalrymple nicht im Verdacht, die revisionistische Agenda der Hindu-Nationalisten zu teilen. Ihm geht es mit seinem Buch vielmehr darum, eine Leerstelle zu füllen, die aus seiner Sicht bis heute in der Geschichtsschreibung existiert. Er führt diese Ignoranz auf den Kolonialismus zurück, der die indische Zivilisation abgewertet habe, um seine eigene «zivilisatorische Mission» zu rechtfertigen. Aber auch die Tendenz, die Geschichte in getrennten Disziplinen und nicht in ihrer Gesamtheit zu studieren, habe dazu beigetragen, dass die Bedeutung Indiens oft übersehen worden sei, schreibt Dalrymple.
Dazu gehört auch der Beitrag der Inder zur modernen Mathematik. Unter der hinduistischen Gupta-Dynastie, die vom vierten bis zum sechsten Jahrhundert grosse Teile der Gangesebene in Nordindien beherrschte, erreichte die Wissenschaft eine Blütezeit. Im zentralindischen Udaygiri errichtete sie ein astronomisches Observatorium, das eine wichtige religiöse Funktion hatte, aber auch zur Erforschung von Zeit und Raum diente. Welche Komplexität das Denken in dieser Zeit erreichte, ist besonders in den Schriften Aryabhatas sichtbar.
Der Mathematiker und Astronom (476–550) legte in seinem Werk «Aryabhatiya» in grosser Klarheit eine Reihe grundlegender Regeln und Formeln dar. Er bestimmte nicht nur die Kreiszahl Pi, sondern berechnete auch die Bewegung der Planeten, die Grösse der Erde und die Länge des Sonnenjahres. Ein Jahrtausend vor Kopernikus und Galileo habe er zudem begriffen, dass sich die Erde um die eigene Achse drehe und nicht der Himmel um die Erde, schreibt Dalrymple.
Über die Araber gelangte das Wissen bis nach Europa
Ein Jahrhundert später ging der Mathematiker Brahmagupta (598–665) noch einen Schritt weiter. Insbesondere entwickelte er Aryabhatas Konzept der Null fort. Indem er die Null nicht nur als Leerstelle begriff, sondern als eigene Zahl mit spezifischen Merkmalen, trug er entscheidend zur Entwicklung der Mathematik bei. Mit den neun Zahlen plus der Null konnte jeder beliebige Wert dargestellt werden.
Dieses mathematische Wissen gelangte im 8. Jahrhundert über die buddhistischen Klöster Afghanistans zu den Abbasiden, die in Bagdad die Hauptstadt ihres Kalifats errichtet hatten. Eine wichtige Rolle bei der Vermittlung spielte der Wesir Khalid ibn Barmak, dessen Familie aus der afghanischen Stadt Balkh stammte und mit Sanskrit und der indischen Mathematik vertraut war. Von Bagdad breitete sich dieses Wissen dann über den ganzen arabisch-muslimischen Raum bis nach Andalusien aus, wo auch christliche Gelehrte davon erfuhren.
Die Art, wie Dalrymple hiervon erzählt, ist ebenso gelehrt wie unterhaltsam. Mancher Forscher mag nun einwenden, dass er in «The Golden Road» wenig originär Neues biete. Tatsächlich ist vieles, was er in seinem Buch beschreibt, Historikern und Archäologen längst bekannt. Auch geht Dalrymple manchmal zu weit – etwa wenn er die Form christlicher Klöster auf den Buddhismus zurückführt. Doch seine Leistung besteht darin, dass er die einzelnen, bekannten Elemente in einer grossen Erzählung zusammenfügt, die für das breite Publikum die Bedeutung Indiens für die Entwicklung der Welt sichtbar macht.