Der Walliser Claude Barras will mit «Sauvages» an seinen ersten Grosserfolg anknüpfen – ein kostspieliges Unterfangen.
Wer findet, der Gipfel der Animation liege in der perfekten Imitation der Natur, könnte mit «Mufasa: The Lion King» glücklich werden: Im jüngsten Teil der Kinoreihe scheinen leibhaftige Raubkatzen geschmeidig durch die Savanne zu gleiten wie in einem Dokumentarfilm über die Serengeti. Das digitaltechnische Muskelspiel mag allerdings noch so imponieren, Plot und Figuren bleiben unbeseelt. Die Faszination des Kinos erschöpft sich eben nicht in der Perfektionierung der Illusion, wie schon der Krebsgang der einst hochgejubelten 3-D-Technik gezeigt hat.
Geht es um künstlerische Ausdruckskraft samt menschlichen Makeln, haben althergebrachte Techniken nicht ausgedient. Das Ergebnis nennt sich Trickfilm, da getrickst wird – doch sie machen sich nur zunutze, dass das Filmhandwerk an sich eine einzige Illusionsmaschine ist. Das begann offiziell mit den Brüdern Lumière, aber vorher hatten die Bilder in Guckkastentrommeln auf Jahrmärkten laufen gelernt, und es gibt eine direkte Linie von diesen mechanisierten Daumenkinos zur Filmkamera: Sie nimmt bekanntlich meist 24 Bilder pro Sekunde auf, die beim schnellen Abspielen wie eine flüssige Bewegung wirken.
Die Illusionsmaschine
Wer also Figuren in Trickfilmen animieren will, braucht 1440 Einstellungen pro Minute – also ebenso viele Zeichnungen. So brachte Walt Disney vor hundert Jahren seine Micky Maus zum Rennen. Sein Erbe führen im Digitalzeitalter etwa die von Steve Jobs gegründeten Pixar-Studios, inzwischen der Walt Disney Company einverleibt, mit atemraubenden, computergestützten Animationen fort, von «Toy Story» bis «Finding Nemo».
Bei der Belebung dreidimensionaler Elemente aber, von Puppen über Papp- bis zu Knetfiguren, gilt Europa als Hochburg: Hier hat sich eine lebendige Szene entwickelt, beflügelt seit 35 Jahren von den «Wallace & Gromit»-Kinoabenteuern aus der Küche des Briten Nick Park. Seine mit Draht verstärkten Plastilinfiguren werden mit der Stop-Motion-Technik animiert, die der französische Filmpionier Georges Méliès vor über hundert Jahren ersann. Jede Bewegung wird Millimeter für Millimeter in Handarbeit vor- und aufgenommen, 24-mal für eine einzige Filmsekunde.
Bei den Special Effects von Realfilmen – «King Kong» etwa wurde einst als animiertes Miniaturmodell eingebaut – haben computergenerierte Elemente die alte Methode verdrängt. Nicht aber im Animationsfilm, wo sie dank marktüblichen Apps auch bei Laien beliebt ist. Profis kombinieren sie inzwischen mit modernster Computertechnik, deren Einfluss Merlin Crossingham, sozusagen der Chefzauberer im Team von Nick Park, allerdings kürzlich in einem Interview relativiert hat: Technologische Fortschritte seien grossartig, sagt er, aber die menschliche Note sei in seiner Arbeit immer noch wichtiger.
Meisterhaftes «Ma vie de Courgette»
Der jüngste Streich von Parks Aardman-Studios, «Wallace & Gromit: Vengeance Most Fowl», ist für den Animationsfilm-Oscar nominiert – ebenso das australische «Memoir of a Snail» von Adam Elliot und Liz Kearney, womit zwei von fünf Sieganwärtern auf der Stop-Motion-Technik basieren. Bis ins Oscar-Finale schaffte es vor acht Jahren auch Claude Barras, der helvetische Meister dieser Disziplin: Sein hinreissendes Coming-of-Age-Drama «Ma vie de Courgette» wurde zu einem Höhepunkt der Schweizer Filmgeschichte; es wurde in sechzig Ländern vertrieben, mit fast einer Million Eintritten nur schon hierzulande und in Frankreich. Es war ein Paradebeispiel dafür, dass starke Kinderfilme über alle Altersgrenzen hinaus packen und berühren.
Nun will der 52-jährige Walliser mit «Sauvages», das wie der Vorgänger in Cannes Premiere feierte und zudem für den Europäischen Filmpreis nominiert war, an diesen Erfolg anknüpfen. Inspiriert vom Wirken des Umweltaktivisten Bruno Manser, siedelt er den Plot auf Borneo an. Als Identifikationsfigur für die Kleinen dient das mutige Mädchen Keria vom Volk der Penan, deren indigene Kultur mit multinationalen Konzernen und kruden Regenwaldabholzern kollidiert.
Nebst einer 45-köpfigen Filmcrew aus Fleisch und Blut waren rund hundert etwa handgrosse Darsteller im Einsatz: biegsame Puppen mit Haut aus Silikon, Harzköpfen aus dem 3-D-Drucker, Latexhaaren, Stahlskelett und Gelenken, die von Hand bewegt werden. Kostenpunkt: 15 000 Franken pro Exemplar. Jede Hauptfigur gab es in zehn Ausgaben, da ebenso viele Animateure mit ihnen arbeiteten, manche eher auf emotionale Szenen, andere auf Action spezialisiert.
Wer also den Verzicht auf reale Darsteller für eine Sparmassnahme hält, täuscht sich: Das «Sauvages»-Budget von gegen 13 Millionen Franken mag im Vergleich zu den mehr als doppelt so teuren «Wallace & Gromit»-Filmen zwar ein Schnäppchen sein, gegenüber «Mufasa» sowieso, doch hierzulande wurde kaum je ein kostspieligerer Film gedreht. Der Erwartungsdruck ist entsprechend hoch. In der Westschweiz, wo das Werk schon seit Oktober im Kino läuft, zeichnet sich allerdings kein derartiger Publikumserfolg ab wie bei Barras’ erstem Langfilm.
Jeder Take muss sitzen
Die sechsmonatigen Dreharbeiten fanden in Martigny statt, in der ausgedienten Industriehalle, in der auch die «Tschugger»-Serie entstand. Als Schauplätze waren fünfzehn Einheiten eingerichtet, mit Bauten wie grössere Puppenhäuser. Ein Teil dieser Miniaturwelten ist im letzten Herbst an der Handelsmesse Foire du Valais in Martigny präsentiert worden. Dort erläuterte der Lausanner Animator Elie Chapuis, der auch bei Wes Andersons «Isle of Dogs» (2018) engagiert war und eine zentrale Rolle bei der Umsetzung der von Barras gezeichneten Ideen spielt, im Gespräch mit der NZZ: «Jeder Take muss sitzen, für Wiederholungen bleibt keine Zeit.»
Sekundenbruchteil für Sekundenbruchteil galt es, Gestik und Mimik umzusetzen, etwa die Lippen zu einem Lächeln zu modellieren. Mund und Augenbrauen spiegeln die Emotionen, die Seele aber verleihen den Figuren die realen menschlichen Stimmen, deren Auswahl entscheidend ist, wie Barras in Martigny betont. Entwickeln denn die Erschaffer selbst Gefühle für diese Gliederpuppen? Beide strahlen, ein «oui» kommt unisono über ihre Lippen.
«Sauvages» trägt Barras’ Handschrift, angefangen bei den überdimensionierten Köpfen der grossäugigen Figuren. Die Animation ist so gelungen wie die Gestaltung der Landschaften, die mitunter an Henri Rousseaus Dschungelbilder erinnern. Dem Meisterwerk «Ma vie de Courgette» allerdings kann die schweizerisch-französisch-belgische Koproduktion nicht das Wasser reichen: Sie hat nicht dessen poetische Kraft und Tiefe, die didaktische Note wirkt aufdringlicher, ebenso der Einsatz von Jö-Effekten. Und doch darf man davon ausgehen, dass nun Tausende Kinder sich kein Löwen-, sondern sehnlichst das Orang-Utan-Baby wünschen, das einen Hauptpart einnimmt.
«Sauvages», ab 6. Februar im Kino.