Die Schweizer gehen insgesamt weniger ins Kino als im Vorjahr, wie neue Zahlen der Branche zeigen. Nur die Welschen trotzen dem Trend. Das liegt auch an mutigen Kinounternehmern.
«Kino ist tot», sagt Laurent Toplitsch, obwohl er kürzlich zum wiederholten Mal ein Kino eröffnet hat. Das Corso in Freiburg, ein paar Gehminuten vom Bahnhof, stand jahrelang leer, fungierte als Diskothek, brannte 2020 aus. Dann fragte der Besitzer des Gebäudes, ein Kinoliebhaber, den Lausanner Toplitsch, ob er übernehmen wolle.
Also steht der Endfünfziger – grauer Rauschebart, langes Haar, zum Zopf gebunden – an einem Mittwochnachmittag hinterm Tresen seines jüngsten Projekts und serviert Gästen Espresso oder Bier. An einem Tisch unterhalten sich zwei Frauen, auf dem Boden toben Kinder auf einer Spieldecke. Plakate werben für Lesungen, ein Flyer bewirbt einen Abend zu den Jakobswegen. Ein Handwerker tritt herein, Toplitsch zeigt ihm, wie die Glasvitrine für den Pizzaverkauf aussehen soll.
Und Filme? Die gibt es natürlich auch, vor allem deutschsprachige. Toplitsch und seine drei Partner arbeiten im zweisprachigen Freiburg mit Germanisten der Universität zusammen. Das ist Teil ihrer Nische.
Doch vor allem ist das Korso, wie das Corso nun heisst, viel mehr als seine drei Vorführsäle. «Kinos müssen wie Shopping-Malls sein», sagt Toplitsch provokant. Kinos sollen also ein Ort sein, an dem die Leute viel Zeit verbringen, an dem sie trinken, essen, vielleicht Kultur konsumieren. Das klassische Kino ist tot, lasst uns etwas Neues erfinden – so lässt sich Toplitschs Devise zusammenfassen.
Zumindest in der Romandie ist das Kino, klassisch oder nicht, recht lebendig. Während die Schweizer insgesamt 2024 etwas weniger ins Kino gingen, taten die Welschen das erneut leicht öfter als im Vorjahr. Das zeigen die jüngsten Zahlen des Branchenverbands Pro Cinema. Jeder Deutschschweizer schaute im vergangenen Jahr im Schnitt nur 1,2 Mal einen Film im Kino, jeder Romand hingegen 1,6 Mal.
Damit scheint sich die Zahl der Kinobesuche in der Schweiz auf einem niedrigeren Niveau als vor der Corona-Pandemie einzupendeln. Besonders wenige Kinobesuche – und oft auch Kinos – gibt es in der Zentralschweiz und anderen ländlichen Kantonen. Doch auch der Aargau zählte 2024 pro Kopf rund 25 Prozent weniger Kinobesucher als die Waadt, obwohl Letztere nur eine halb so hohe Bevölkerungsdichte hat.
Warum ist die Romandie so cinephil? Es beginnt bei der Infrastruktur. In der Deutschschweiz gibt es rund 2,5 Kinos pro 100 000 Einwohner, in der Romandie gut eineinhalb Mal so viele, nämlich 3,9. Während die Deutschschweiz tendenziell mehr Multiplex-Kinos zählt, fällt in der Westschweiz vor allem die Anzahl ambitionierter Landkinos auf, in kleinen Gemeinden wie Sainte-Croix (VD), Val-de-Travers (NE) oder Le Noirmont (JU).
Oder auch in Oron, rund 20 Kilometer von Lausanne, wo Laurent Toplitsch vor bald zwanzig Jahren das Kino übernahm. Die Gemeinde hatte den Betrieb lange mit rund 60 000 Franken im Jahr subventioniert, trotzdem ging er pleite. Toplitsch verlangte nur 20 000 Franken an Subventionen, das deckt die Miete, und erhielt den Zuschlag.
Er ging in die Vollen. Aus einem grösseren Kinosaal machte er zwei kleinere. Statt nur am Wochenende zu öffnen, tut er das täglich. Toplitsch multiplizierte das Angebot an Filmen, auf rund hundert im Jahr. Das ist eine stattliche Zahl für Oron, das nach der Eingemeindung von fast einem Dutzend Dörfer gut 6000 Einwohner zählt.
Frankreichs Kinokultur färbt ab
Geografie spielt eine wichtige Rolle für die anhaltende Bedeutung des Kinos in der Romandie. «Die Westschweiz ist eher von der Kinokultur Frankreichs geprägt», sagt Ivette Djonova, die Generalsekretärin des Branchenverbandes Pro Cinema. Kino hat in Frankreich eine tief verankerte Tradition, Filmemacher werden massiv staatlich subventioniert und mit Quoten für französische Produktionen gefördert.
Das schlägt sich auch im Kinoprogramm hierzulande nieder: Schweizer Filme hatten 2024 nur einen Marktanteil von 9 Prozent, französische aber von 13 Prozent – und deutsche kamen auf lediglich 5 Prozent.
Die meisten französischen Filme werden naturgemäss in der Romandie geschaut. Vergangenes Jahr war das vor allem die Komödie «Un pet’t truc en plus», die so liebevoll wie politisch unkorrekt von einem Ferienlager für Behinderte erzählt. Der Film wurde in Frankreich einer der erfolgreichsten der Geschichte.
Typisch französisch-welsch ist es zudem, Filme in der Originalsprache mit Untertiteln zu schauen. In der Romandie tun das 58 Prozent der Kinogänger. In der Deutschschweiz hingegen bevorzugt eine Mehrheit von 53 Prozent deutsche Vertonungen fremdsprachiger Filme.
Insgesamt bewertet Pro Cinema die Besucherzahlen für 2024 trotz dem leichten Rückgang als «erfreulich». 10,6 Millionen Billette verkauften Schweizer Kinos, und das, obwohl wegen des Streiks in Hollywood mehrere amerikanische Blockbuster nicht wie geplant auf die Leinwand kamen. Diese Lücke hätten Schweizer Filme wie «Bon Schuur Ticino» und «Tschugger» sowie Animationsfilme füllen können, sagt Ivette Djonova.
Für die kommenden Jahre erwartet die Verbandsmanagerin, dass sich die Zahlen bei 10,5 bis 11 Millionen und mehr Eintritten pro Jahr einpendeln. Die Branche sei kreativ und schaffe vermehrt Events wie Frauenabende oder Lunchkino. Das Konzept, zur Mittagszeit einen Film zu zeigen, ist im Zürcher Arthouse Le Paris am Stadelhofen sehr populär – weshalb Laurent Toplitsch es auch in Freiburg eingeführt hat.
Mehr Unterstützung mit Steuergeldern
Das Korso, das Toplitsch im September wiedereröffnet hat, betreibt er im Gegensatz zu seinen Kinos in Oron, Lausanne und auch Neuenburg ohne öffentliche Subventionen. Gewissermassen wird er jedoch vom Gebäudeeigentümer subventioniert, denn Toplitsch hat nach eigenen Angaben die Miete hart verhandelt: Nur 500 Franken im Monat zahle er derzeit, in den kommenden zehn Jahren soll der Betrag auf 5000 Franken steigen. Kinos an peripheren Orten hingegen hätten ohne kommunale Hilfen keinerlei Überlebenschance, sagt er.
Solche Überzeugungen scheinen sich auch in der Politik zu verbreiten. Ivette Djonova von Pro Cinema verweist auf die neue Goldmedia-Studie im Auftrag des Bundesamts für Kultur. Diese empfiehlt, nicht nur die Filmproduktion zu fördern, sondern die gesamte Wertschöpfungskette, inklusive der Kinos.
Das spiegelt sich in der Kulturbotschaft des Bundesrats für die Jahre 2025 bis 2028: Die Fördermassnahmen zugunsten der Kinos sollen finanziell leicht ausgebaut werden, heisst es darin – zum «Erhalt der Angebotsvielfalt und der Rolle der Kinos als Ort der Filmkultur und Begegnung».