Es gibt viele Wege, den Teenager im eigenen Sohn zu erkennen – der Duft von Versace um 7 Uhr morgens ist einer davon. Ein sensibles Riechorgan hat aber auch seine guten Seiten.
Es geschah kurz nach der Sommerpause: Ich sass frühmorgens am Küchentisch, zum wiederholten Mal erstaunt darüber, welche Aufstehzeiten wir uns hierzulande zumuten, als ich plötzlich fast vom Stuhl kippte. Ein Parfumgeruch stieg mir in die Nase, so scharf auf Teufel komm raus männlich, dass es in keinen noch unberührten Morgen hineinpasst. Mein Sohn schien über die letzte Sommerferienwoche also definitiv ein Teenager geworden zu sein, ich fragte: «Was hast du aufgesprüht?» Er: «Versace.» Ich wollte ihm den Spass nicht vermiesen.
Mein Riechorgan bestimmt diktatorisch mein Leben. Mit wem ich gerne länger rede, wo ich gerne sitze, von wo ich schnell wieder wegwill. Ich rieche, welche Kollegin zuvor im Lift stand, ob ein Abfall geleert werden muss, wenn jemand starke Medikamente nimmt, lange nichts mehr getrunken hat oder vom Schwimmen kommt.
Auch meine Nonna hatte eine dermassen gute Nase, dass sie es schaffte, fast hundert Jahre alt zu werden, ohne je nicht dezent und gepflegt zu duften. Ging sie hinaus, sprühte sie sich ein bisschen «Eau de Soir» von Sisley aufs Handgelenk – Duft intensiviert sich ja auf pulsierenden, warmen Stellen (Ohr, Nacken, Schläfe, Hals, Kniekehlen). Liv Tyler soll sich sogar die Achseln, den Bauchnabel und die Fusssohlen besprühen, hat aber keine eigene Parfummarke; im Gegensatz zu (unter anderen) Rihanna, Britney Spears, Jennifer Lopez, Beyoncé, Lady Gaga, Kim Kardashian, Selena Gomez, Paris Hilton, Taylor Swift, Sarah Jessica Parker – und Billie Eilish.
Nicht verduftende Erinnerungen
Für «Eilish No. 2» (2023), das als düster, mysteriös und unglaublich verführerisch beschrieben wird, räkelt sich die Künstlerin in einem Video in einer schwarzen, undefinierbaren Flüssigkeit in einem endlosen Raum, und der Flakon zeigt eine weibliche Büste mit schwarzer, glänzender Oberfläche. Die Ähnlichkeit zum Film «Under the Skin» nach dem Roman von Michel Faber ist augenfällig. Dort verführt ein Alien in Menschengestalt, gespielt von Scarlett Johansson, wehrlose Männer und bringt sie in einer schwarzen Flüssigkeit zu Fall. Am Ende zeigt sich das Alien in seiner ausserirdischen Gestalt: eine Figur aus derselben dunklen Flüssigkeit, die während der Verführungssequenzen zu sehen ist.
Wie aber riecht diese dunkle Leere? Nach nichts, wie die Figur des Jean-Baptiste Grenouille in Patrick Süskinds Roman «Das Parfum»? Unheimlich. Mit der Nase kann man «Gefahr riechen», sich orientieren (gemäss der Redewendung «immer der Nase nach»), und man kann sich in vergangene Zeiten «zurück-riechen», genannt der Madeleine-Effekt: Marcel Proust beschreibt in seinem Buch «À la recherche du temps perdu», wie der Geschmack eines Madeleine-Gebäcks in ihm Kindheitserinnerungen aller Art hervorruft. «Erinnerungen verduften nicht», sagt wiederum die Künstlerin Olivia Wiederkehr in ihrer Zürcher Duftinstallation «schmerzh».
Meine eigenen Parfums habe ich nie selber gewählt, sondern stets von Freunden geschenkt bekommen – sie lagen immer richtig. Nur einmal erinnerte mich ein Duft zu stark an einen sehr behaarten, sehr netten Schauspieler, mit dem ich vor Jahren gearbeitet hatte. Nun besitze ich seit neuestem einen Duft, den hierzulande noch kaum jemand kennt – «die Geschichte eines Hundehalsbandes, das zu einem Gürtel wurde, der zu einem Armband wurde, das zu einem Parfum wurde».
Der Freund, der ihn mir geschenkt hat, kennt nicht nur mich seit vierzig Jahren, sondern absolut alles, was es über Düfte zu wissen gibt: welche Düfte neu auf den Markt kommen, welche wegen Allergieregulationen und Tierschutzverordnungen reformuliert werden, nicht mehr zu haben sind, neu komponiert oder eingestellt wurden oder doch noch auf Ebay zu finden sind. Für mich sei er hin- und hergerissen gewesen, dann habe er sich für einen brandneuen Frauenduft entschieden, schwer, blumig, mit Leder: «Barénia» von Hermès.
Und damit sitze nun auch ich frühmorgens am Küchentisch und dufte um die Wette. Vor lauter feinem Duft kommt mir manchmal fast die Welt abhanden.
Renata Burckhardt ist Bühnenautorin, Kolumnistin und Dozentin in den Bereichen Kunst, Literatur und Theater, unter anderem an der FHNW in Basel. Zudem leitet sie Schreibworkshops an diversen Theater- und Literaturinstitutionen.