Die Serie «The White Lotus» zieht nicht nur Millionen Zuschauer an, sondern auch Touristen zu den luxuriösen Drehorten. Executive Producer Mark Kamine erklärt, wie die Schauplätze gefunden werden.
Plötzlich wollen alle hin. Sie graben die Zehen in denselben Sand, schwitzen im gleichen Hotel-Spa, schlafen im gleichen King-Size-Bett, rücken am gleichen Pool die Sonnenbrille zurecht genau wie die Figuren der Fernsehserie «The White Lotus». In der Serie von Drehbuchautor und Regisseur Mike White prallen Wohlstandsverwahrloste im fiktiven Luxushotel «The White Lotus» aufeinander. In der ersten Staffel auf Hawaii, dann im sizilianischen Taormina und seit Februar in der dritten Staffel auf Thailand. Doch die Ferienidylle trügt, bald bekämpfen sich die schönen und superreichen Gäste in ihren Designerkleidern gegenseitig, Beziehungen zerbrechen, Missgunst und Rache regieren, und am Ende liegt manchmal einer tot da.
10 Millionen Menschen schauen sich die Episoden durchschnittlich an, ein lukratives Geschäft für die Streaming-Plattformen und für die Drehorte. Sie werden von Touristen überrannt, die genauso reisen wollen wie die Gutbetuchten in der Serie. Bereits vor einem Jahr, als Thailand als neuer Drehort bekanntwurde, verzeichneten Buchungsplattformen einen Anstieg der Suchanfragen, Hotelpreise kletterten in die Höhe, Fluggesellschaften nahmen zusätzliche Flüge nach Phuket auf. Laut der BBC stiegen die Website-Besuche des Four Seasons Resorts auf Maui, das als Kulisse für die erste Staffel diente, nach der Ausstrahlung um 425 Prozent.
Das Hotel San Domenico in Taormina, wo die zweite Staffel gedreht wurde, war sechs Monate lang ausgebucht. Eine Nacht im günstigsten Zimmer kostet über 2300 Franken, die Suite etwa 9000 Franken. Das Phänomen hat einen Namen: «‹White Lotus›-Effekt». Es gehe um Emotionen, welche die Leute nacherleben wollten, um den «Erzählwert», den solche Reisen mit sich brächten, und wenn es auch nur eine einzige Nacht im edlen Hotel sei, sagen Tourismusforscher und Hotelmanager. Doch der Boom hat auch negative Auswirkungen. Auf Phuket und Koh Samui brechen Müllentsorgungs- und Abwassersysteme zusammen.
Gleich für mehrere Wochen in Luxushotels eingecheckt hatte jeweils Mark Kamine, Mitproduzent von «The White Lotus». Bevor er als Produzent arbeitete, war er jahrelang als Location Scout, als Drehortsucher, tätig, unter anderem für die Fernsehserie über die italoamerikanische Mafiafamilie «The Sopranos». Wie schwierig es mitunter sein kann, passende Filmkulissen zu finden, beschreibt er in seinem Buch «On Locations. Lessons Learned from My Life on Set with the Sopranos and in the Film Industry».
Herr Kamine, hätten Sie erwartet, dass die Serie «The White Lotus» so viele Touristen nach Thailand lockt?
Nein, definitiv nicht. Während der Covid-Pandemie suchte HBO dringend nach neuem Programm. Mike White entwickelte daraufhin in letzter Minute die Serie. Nach der ersten Staffel merkten wir, dass die Serie beliebt war und Luxushotels uns wegen des Werbeeffekts in Betracht ziehen könnten. Doch als wir die Auswirkungen der zweiten Staffel sahen und das Gerücht über einen «‹White Lotus›-Effekt» aufkam, staunten wir. Und, wow, das Gefühl hält an!
Und wie erklären Sie sich den Effekt? Schliesslich finden in den Hotels von «The White Lotus» Morde und Intrigen statt.
Reisen zu Filmschauplätzen faszinieren die Menschen seit je. Schon bei der Serie um den Mafioso Tony Soprano stiegen Fans in Busse, um die Drehorte zu besuchen. Und in den fünfziger Jahren weckte John Houstons Film «The Night of the Iguana» Interesse an Puerto Vallarta. «The White Lotus» zählt zu den populärsten Serien der Gegenwart, und die Zuschauer sind gespannt, wo eine neue Staffel spielt. Die Zuschauer sehen die Sendung oder hören Gerüchte über die Drehorte und gehen dorthin in die Ferien.
Wie wurde der Schauplatz Thailand gefunden?
Mike wollte eine Staffel in Asien drehen, die sich mit Spiritualität und westlichen Deutungen der dortigen Traditionen befasst. Wir beauftragten eine japanische und eine thailändische Filmfirma mit der Recherche und reisten durch die Länder, um die besten Hotels auszuwählen. Schliesslich fiel unsere Wahl auf Thailand. Mike lebte dort mehrere Monate, knüpfte Kontakte, tauchte in die Atmosphäre ein und schrieb die Drehbücher.
Wie viele Nächte mussten Sie jeweils in Luxushotels verbringen, bis ein Deal zustande kam?
Ich weiss nicht, wie viele es waren, aber wir waren in jeder Staffel von «White Lotus» monatelang in den Hotels, in denen wir gedreht haben.
Was macht einen Dreh in einem Luxushotel schwierig?
Dass der normale Hotelbetrieb einfach weiterlaufen muss. Die Gäste zahlen viel und wollen nicht von einem Filmteam gestört werden. So aufregend das für ein paar Stunden auch sein mag, niemand möchte in den Ferien hören, dass er nicht an den Swimmingpool oder den Strand gehen kann, weil dort gerade gedreht wird.
Wie gehen Sie in solchen Situationen vor?
In solchen Fällen mieten wir meist das ganze Hotel. Bei normalen Drehs in Zimmern oder Fluren buchen wir nur eine Etage, etwa 30 Zimmer, nutzen die Dienstaufzüge und filmen im Zimmer, ohne die Gäste zu stören.
Und wie drehen Sie an stark frequentierten Orten wie einer Lobby?
Drehen wir in der Lobby oder in einem Hotelrestaurant, arbeiten wir entweder mitten in der Nacht, um weniger zu stören, oder wir schliessen das Restaurant oder die Bar für ein paar Tage und entschädigen den Einnahmeausfall.
Welchen Werbewert hat ein Hotel durch einen Filmdreh?
Für Hotels sind bekannte und prestigeträchtige Serien wie «The White Lotus» sicher sehr attraktiv. Dass durch einen Dreh ein Werbe- und Marketingwert entsteht, ist eindeutig. Wir vereinbaren Deals, das Hotel erhält Zugang zu Fotos oder Videointerviews, und wir erhalten einen Preisnachlass. Manchmal reicht der Werbewert allein, um sie als Drehort zu gewinnen. So oder so, es spielt uns in die Karten.
Welche besonderen Erlebnisse hatten Sie bei der Drehortsuche für «White Lotus»?
Die Staffeln von «White Lotus» waren grossartig. Da die Serie in erstklassigen Resorts spielt, erkundeten wir Orte wie Hawaii, Sizilien und Thailand. Während wir die Möglichkeiten prüften, gewannen wir Einblicke in Hotels und Landschaften, die man sonst selten sieht. Sobald Mike White einen Drehort wählte, kehrten wir an diese atemberaubenden Orte zurück. Wo man sonst privat vielleicht nur eine Woche Ferien macht, verbrachten wir Monate mit Vorbereitungen und Dreharbeiten. Wir arbeiteten mit lokalen Crews, dem Personal vor Ort sowie Regierungs- und Gemeindevertretern zusammen. Es ist harte Arbeit, doch manchmal hält man inne und erkennt, wo man ist. Ich erinnere mich an die Wale, die vor Maui aus dem Wasser sprangen, den Blick auf den Ätna vom Hotel in Taormina oder die Wassertemperatur in Phuket, wenn ich nach einem Arbeitstag schwimmen ging. Diese Erlebnisse waren beeindruckend.
Bevor Sie als Produzent arbeiteten, waren Sie jahrelang Location Scout. Wie wird eigentlich ein gewöhnlicher Ort zum Drehort?
Man braucht einen Eigentümer oder Hausverwalter, der das Filmen erlaubt, und zahlt eine Gebühr für den Drehort. Einige Städte bieten staatliche Gebäude günstig für Dreharbeiten an. Zuerst zählt jedoch das Drehbuch: Passt der Ort, passt das Gebäude? Zudem muss der Zugang für die schwere Ausrüstung gewährleistet sein. Ich habe schon an Orten gedreht, wo die Crew alles die Treppen hochschleppen musste. Auch mitten im Wald ist es ungünstig. Wo parkieren die Lastwagen? Wie nah liegt der Drehort am Produktionsbüro? Regisseur, Produzent und Designer müssen mit dem Ort zufrieden sein. Unpraktikable Drehorte sollte man aussortieren, bevor sich jemand in sie verliebt.
Welche Drehorte sind am schwierigsten zu finden?
Exklusive oder private Drehorte zu finden, ist oft eine Herausforderung. In New York war es immer besonders mühsam, Bürohochhäuser für Dreharbeiten zu nutzen. Stand im Drehbuch «Penthouse-Apartment», wusste ich sofort: Das wird kompliziert. Dann musste ich nicht nur mit einem, sondern gleich mit mehreren Eigentümern verhandeln. Auch öffentliche Orte wie Museen bereiten Probleme, da der Zugang fürs Filmen oft eingeschränkt ist.
Welcher Ihrer Funde wurde zu Ihrem Lieblingsdrehort?
Einige Orte, die ich zu Beginn meiner Karriere entdeckte, faszinieren mich bis heute. Ein Beispiel ist der Satriale’s Pork Store aus der Serie «The Sopranos». Ich erinnere mich lebhaft daran, wie ich in New Jersey an diese Kreuzung kam, das leere Ladenlokal sah und dachte: Das ist es. Ich fand den Besitzer, der dort eine Reinigungsfirma eröffnen wollte. Er sagte: «Ich fange gerade erst an, warum sollte ich das tun?» Doch schliesslich lohnte es sich für ihn, denn wir boten ihm eine gute Miete und übernahmen die Kosten für sein Büro an einem anderen Ort. Der Produktionsdesigner verwandelte die Fassade in einen Schweinefleischladen, der dem aus dem Pilotfilm glich – inklusive des Schweins auf dem Dach.
Wo würden Sie trotz hohen Kosten gerne drehen?
Es gibt so viele Orte, an denen ich gerne arbeiten würde. Ich lese jede Menge Reisemagazine, um informiert zu bleiben. Ich war noch nie in Südamerika, Marokko klingt auch sehr cool. Aber wir müssen immer abwägen, was wir uns leisten können.
Was ist mit der Schweiz?
Es ist lustig, denn als wir in Italien die zweite Staffel von «White Lotus» drehten, gab es noch Covid-Restriktionen, und wir mussten für eine Woche pausieren. Wir waren damals in Rom, und es war im Sommer richtig heiss. Meine Frau war dabei, und wir wollten einfach mal an einen ruhigeren Ort. Da dachten wir natürlich an die Alpen. Wir fanden ein cooles Hotel in Adelboden, gingen wandern, und es war wunderschön. Ich war auf anderen Reisen auch schon in Zürich und Bern: sehr malerische, schöne Städte.
Warum zogen Sie die Schweiz denn bisher nicht in Betracht?
Wenn ein Land oder eine Region keine Anreize bietet, meiden Studios den teuren Standort. Üblicherweise fliessen 20 Prozent der Ausgaben an die Produktionsfirma zurück. Wollen wir die Alpen als Kulisse, können wir in Italien drehen und von hohen Steuervergünstigungen profitieren. Auch Frankreich und Österreich bieten solche Vorteile. Die Schweiz hingegen ist ein hartes Pflaster.