Der Fotograf Anton Vester hat Menschen begleitet, die auf ein Spenderorgan warten. Wie gehen sie mit dieser Not um?
Ende Januar war Sonja Baumgarte mit ihrem neunjährigen Sohn Jacob wieder einmal im Spital, eine Routinekontrolle. Jacob leidet unter Lungenhochdruck, verursacht durch ein Loch in seinem Herzen, das er seit seiner Geburt hatte. Das Loch ist inzwischen geschlossen; doch zum Zeitpunkt der Operation war die Lunge schon so geschädigt, dass feststand: Jacob braucht langfristig ein neues Organ.
Lange habe ihr Sohn damit recht gut leben können, sagt Baumgarte. Sie wohnt mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen bei Hannover. Sie sprudelt, als sie Jacobs Geschichte am Telefon erzählt. «Wir sind grundsätzlich eine positive Familie», sagt sie. Dank Medikamenten könne ihr Sohn fast ein normales Leben führen. Jacob singt im Chor und spielt mit Freunden; nur beim Toben darf es nicht zu wild werden. Nachts benötigt er Sauerstoff.
Dann kam diese Routineuntersuchung im Januar. Der Lungenhochdruck belastet das Herz, Jacob droht jederzeit ein Herzstillstand. Nun haben sich bestimmte Werte verschlechtert. «Noch letzte Woche war der Stand: ‹Wir gucken mal, wann eine Lungentransplantation infrage kommen könnte›», sagt seine Mutter. «Jetzt heisst es: Es ist dringend.»
Quälende Angst, Momente der Hoffnung
Der Fotograf Anton Vester hat über ein Jahr lang Patienten begleitet, die auf ein Spenderorgan warten. «Ohnmächtige Stille» erzählt vom Warten auf den rettenden Anruf: Endlich, es wurde ein Spender gefunden.
«In den Medien geht es meist um die Erfolgsgeschichten», sagt Vester. Sie handeln von gelungenen Transplantationen, heldenhaften Ärzten und glücklichen Patienten, die ein neues Leben beginnen. Er habe von der Zeit davor erzählen wollen, sagt Vester: von quälender Angst, Rückschlägen, Momenten der Hoffnung.
In Deutschland warten derzeit 8260 Menschen auf ein Spenderorgan, in der Schweiz sind es etwa 1400. Die meisten benötigen eine Niere, andere eine Leber, ein Herz oder eine Lunge.
Nierenpatienten warten zum Teil acht bis neun Jahre auf ein neues Organ. Bis dahin übernimmt die Dialyse die Funktion der Niere. Weil andere Patienten ähnliche Möglichkeiten nicht haben, sterben viele von ihnen, während sie auf ein neues Organ warten; in Deutschland sind es etwa drei Patienten pro Tag.
«Meine Lunge ist steif wie eine Wärmeflasche»
Die Lebensumstände der Betroffenen, die Vester getroffen hat, sind enorm verschieden. Eine Frau geht fast unverändert ihrem Alltag nach, sie geht arbeiten und macht Sport. Eine andere lebt seit fast zwei Jahren im Spital; sie braucht ein Herz und eine Lunge.
Astrid Gruschke wohnt in Dessau und leidet an einer seltenen Lungenerkrankung. Ihre Lungenbläschen wandeln sich in Bindegewebe um, so dass der Gasaustausch nicht mehr richtig funktioniert. «Normalerweise ist die Lunge wie ein leichter Luftballon», sagt Gruschke. «Meine ist steif wie eine Wärmeflasche.»
Sie ist rund um die Uhr auf künstlichen Sauerstoff angewiesen. Jeder Atemzug erinnert sie an die Krankheit. Alles kostet Kraft: das Treppensteigen, das Tragen der Einkäufe, das Aufrichten im Bett. «Es fühlt sich an, als ob ich nur durch einen dünnen Strohhalm Luft bekomme», sagt Gruschke. «Das ist zum Durchdrehen.»
Spanien hat weltweit die meisten Organspender
Wer ein Spenderorgan bekommt, hängt von verschiedenen Kriterien ab, etwa der Blutgruppe, der Grösse des Organs oder Zellmerkmalen, die übereinstimmen müssen. Für Deutschland ist die Stiftung Eurotransplant in Leiden in den Niederlanden für die Zuteilung zuständig, in der Schweiz die Stiftung Swisstransplant.
Die Betroffenen können nicht beeinflussen, ob und wann sie ein Organ erhalten, das macht die Lage umso schwieriger. Eine Frau, die Anton Vester begleitet hat, musste mit ansehen, wie Patienten, die nach ihr ins Spital gekommen sind, vor ihr mit einem neuen Organ entlassen wurden.
Hauptgrund für die langen Wartezeiten ist jedoch, dass es zu wenig Spender gibt. 2024 stellten in Deutschland 953 Personen nach ihrem Tod ihre Organe zur Verfügung. Das sind 11,4 Spender pro eine Million Einwohner – damit belegt das Land europaweit einen der hinteren Plätze. Die Deutsche Stiftung Organtransplantation bezeichnet die Lage der Betroffenen als dramatisch. Ganz anders in Spanien, das als Vorbild gilt: 2024 kamen dort 53 Spender auf eine Million Einwohner, das ist die höchste Rate weltweit.
Die Zahl der Spender soll erhöht werden
In Deutschland gilt die Entscheidungslösung. Das heisst, dass einer Person nur dann Organe und Gewebe entnommen werden dürfen, wenn diese zuvor zugestimmt hat. Liegt keine klare Willensbekundung vor, werden die engsten Angehörigen befragt: Hat sich der Verwandte vielleicht einmal über das Thema geäussert? Meist sind die Angehörigen jedoch ratlos. 2022 hatten in einer Umfrage nur 40 Prozent der Teilnehmer einen Spenderausweis – zu wenig, um den Bedarf an Organen zu decken.
Immerhin gibt es seit März 2024 ein digitales Register, wo Bürger festhalten können, ob sie für eine Organspende bereit wären. Unter der Ampelregierung diskutierte der Bundestag zudem über die Einführung der Widerspruchslösung, wenn auch ohne Ergebnis. Dieses Modell sieht vor, dass automatisch jeder Bürger nach seinem Tod als Spender infrage kommt, es sei denn, er hat dem zu Lebzeiten ausdrücklich widersprochen. Auch in Spanien gilt die Widerspruchslösung, in der Schweiz soll sie 2026 in Kraft treten. Allerdings: Auch sie garantiert nicht allein eine höhere Zahl von Spendern, wie jüngst eine Studie herausfand.
Für die Betroffenen und ihre Angehörigen bedeutet das Warten oft, im Hier und Jetzt zu leben. Alexander Brucker, ein Herzpatient, sagt, er sei bei der Bundeswehr gewesen und habe dort das «Leben in der Lage» gelernt. Heisst für ihn: Er versucht, das Beste aus seiner Situation zu machen. Er fährt Velo, macht leichtes Hanteltraining und geht spazieren. Er versucht, nicht allzu viel nachzudenken.
Ein Plan für den Abschied
Sonja Baumgarte, die Mutter des neunjährigen Jacob, sagt, es sei schön, ihr Kind wachsen zu sehen. Zu erleben, wie intelligent es sei, im Sommer mit ihm Eis zu essen. Baumgarte sagt: «Ich frage mich oft: Habe ich Jacob vor der Schule gut verabschiedet? Will ich, dass der Streit, den wir gerade hatten, vielleicht der letzte Moment zwischen uns war?» Ist der Tod ein ständiger Begleiter, bekommt man wohl eher ein Gefühl dafür, wie kostbar das Leben ist.
Jacob steht nun auf der Warteliste für eine neue Lunge. Seine Mutter sagt, ihr helfe zu wissen, dass sie mit ihrer Not nicht allein sei; dass es Menschen gebe, die an ihrer Seite stünden, und dass es Familien gebe, die ein ähnliches Schicksal hätten.
Regelmässig macht die Familie Ferien in einem Kinderhospiz, auch deshalb, weil sie wegen Jacobs Krankheit nicht weit wegfahren kann. Es ist ein Trost: einen vertrauten Ort zu haben, an dem Jacob sterben darf, falls es doch einmal so weit sein sollte.