Seit kurzem ist Hermès das wertvollste Unternehmen Frankreichs. Keine Luxusmarke sei so beständig und dennoch so kreativ, heisst es. Warum eigentlich?
Ein bisschen erinnert es an das Pferd auf dieser eben erst in Genf vorgestellten Hermès-Uhr, das auf Knopfdruck frech die Zunge herausstreckt: Mitte April überholte das Luxushaus Hermès den Luxuskonzern LVMH als wertvollstes Unternehmen Frankreichs mit einem Vorsprung von fast 5 Milliarden Euro. Im Internet wurde die Nachricht behandelt wie ein langersehnter Twist in einem seit Jahrzehnten andauernden Rennen. Die Schildkröte überholt den Hasen. Das Familienunternehmen siegt über den 75-Marken-Konzern.
Es ist natürlich komplexer. Doch nicht nur dank dem steigenden Börsenwert kommt man seit geraumer Zeit um Hermès nicht herum. Sie sei anders als die anderen, lautet die beliebte Erklärung für den Erfolg der Pariser Maison. Aber inwiefern eigentlich?
Ein glückliches Pferd
Angefangen hat es beim Pferd. Oder besser: bei der Last, die das Pferd schleppte. 1837 gründete Thierry Hermès, ein aus Deutschland emigrierter Lederhandwerker, in Paris seine eigene Werkstatt. Er stellte Pferdegeschirr her, diese Verbindung zwischen dem Tier und den Wägen, die es durch die bald verbreiterten Pariser Boulevards zog.
Mit jeder neuen Familiengeneration an der Spitze – bis heute wird das Unternehmen von Nachfahren des Thierry Hermès geführt – kamen neue Produkte dazu: zuerst Sattel und dann eine geräumige Ledertasche, um den Sattel zu tragen (1900), bald weitere Accessoires wie Schmuck (1927) und Seidenfoulards (1937). Die «Kelly Bag» (1939, noch unter anderem Namen) wurde durch ein Paparazzi-Bild von Grace Kelly in den fünfziger Jahren weltberühmt. Und die für Jane Birkin entwickelte «Birkin Bag» (1984) wurde erstmals in einem Flugzeug skizziert – auf einer Papierserviette oder einer Kotztüte, je nachdem, wer die Geschichte erzählt.
Seidenfoulards und Sattelnähte
Heute kann man bei Hermès sein gesamtes Leben ausstatten – seinen Hermès-Esstisch mit Hermès-Tellern decken und in einem Hermès-Stuhl, entworfen vom Architekten Enzo Mari und hergestellt in Italien, daran Platz nehmen. Oder man packt alles in den Hermès-Picknickkorb aus in Frankreich handgeflochtener Korbweide und düst auf einem Hermès-Skateboard aus bedrucktem Buchenholz zum Park. Alle zusammen würden diese Objekte etwa 50 000 Franken kosten. Keines davon weist gut sichtbare Logos auf.
Stattdessen tragen sie alle die Hermès-Handschrift. Sie umspannt verspielte Zeichnungen, sorgfältig benannte Farbtöne und unzählige Rückbesinnungen auf das Pferd und seine Accessoires. «May the horse be happy», sagt Pierre-Alexis Dumas, seit 2005 Artistic Director der Marke, noch heute.
Viele der Objekte und Kleider lösen das unbedingte Verlangen aus, sie zu berühren: über das genarbte Leder zu fahren, das samtene Holz zu spüren, die berühmte Sattelnaht – seit 1837 ein Markenzeichen – zu ertasten. «Handwerk» mag in der zeitgenössischen Luxuswelt ein inflationär verwendeter Begriff sein. Doch während andere Luxuslabels ihre Produktion ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu tieferen Preisen zunehmend auslagerten oder möglichst automatisierten, stärkte Hermès seine ursprünglichen Arbeitsweisen. Auch dann, als die Firma ab den achtziger Jahren unter dem CEO Jean-Louis Dumas stark zu wachsen begann.
Die Maison über allem
Hermès unterhält heute 75 eigene Workshops, etwa für Leder- und Metallarbeiten, und beschäftigt über 7000 Handwerker. Die meisten von ihnen werden vom Unternehmen selbst aus- oder weitergebildet – in Zeiten des Fachkräftemangels eine wertvolle Ressource. Und man bleibt nah am Ursprungsland der Marke: Laut dem Geschäftsbericht 2024 wurden 74 Prozent der Hermès-Objekte in dem Jahr in Frankreich hergestellt. Der Rest stammt vorwiegend aus der Schweiz, Italien, Grossbritannien, den USA, Portugal und Australien.
Hermès weiss um den Wert dieser Tatsachen. Sie werden in den Geschäften, im Online-Shop und in Initiativen betont. In der 2021 lancierten Wanderausstellung «Hermès in the Making» etwa kann man Handwerker kennenlernen und Siebdruck ausprobieren. Die Zürcher Ausgabe im Herbst 2024 besuchten über 15 000 Menschen – ein Beweis für die Anziehungskraft der Marke, denn zu kaufen gab es nichts. Dafür spart Hermès anderswo. Das Haus hat keine eigene Marketingabteilung. 2023 investierte es nur 4 Prozent seines Umsatzes zurück in die Promotion, verglichen mit den 12 Prozent von LVMH.
Ein weiterer Unterschied zum Luxuskonzern von Bernard Arnault: Für jede Abteilung der Marke setzt Hermès eigene Kreativdirektoren ein. So ist das Haus nicht zu stark von einem bestimmten Namen geprägt, der jederzeit gehen könnte. Nicht, dass das zu erwarten wäre: Véronique Nichanian verantwortet seit 1988 die Herrenkollektion, und Pierre Hardy entwirft seit 1990 die Schuhe der Maison, darunter die beliebte «Oran»-Sandale. Nadège Vanhée feierte 2024 ihr Zehn-Jahre-Jubiläum als Designerin der Damenmode. Ihre sinnliche Kleidung innoviert im Kleinen, mit spitz zulaufenden Reitstiefeln und glänzenden Lammleder-Shorts, die mit Strick aus Cashmere und Seide kontrastieren.
Auch auf dem Laufsteg sind Leder und Reverenzen an den Reitsport eine Konstante: Die Hermès-Damenkollektion für Herbst/Winter 2025.
In einer von ständiger Veränderung geprägten (Mode-)Welt hat sich Hermès damit als Insel der Beständigkeit herausgestellt, die Kreativität nicht verkennt, sondern fördert. Das positioniert das Haus verlässlich ganz oben auf der Luxuspyramide. Besonders bei den Handtaschen gilt Hermès als Massstab. Heisst: Andere Labels orientieren sich an den Preisen der Marke, können diese aber kaum überschreiten, ohne massiv überteuert zu wirken.
«Diese teuflische Marketingidee»
Denn Hermès handelt auch mit Exklusivität. Seit den nuller Jahren übersteigt die Nachfrage das Angebot bei den begehrtesten Taschen wie den «Birkins» und den «Kellys» – sie kosten, in ihren schlichtesten Varianten, um 10 000 Franken. Im Secondhandmarkt werden sie gerne zum doppelten Preis angeboten.
Nicht jeder Kundin und jedem Kunden wird eine solche Tasche zum Kauf offeriert. Man kann Monate oder Jahre auf einer Warteliste stehen oder sich dazu veranlasst fühlen, zuerst viel Geld für Foulards oder Kleidung auszugeben. Andere versuchen ihr Glück, indem sie das Verkaufspersonal mit selbstgebackenen Keksen oder Tickets zum Beyoncé-Konzert beschenken.
Solche Wartelisten können einem Unternehmen zu mehr Stabilität in wirtschaftlich unsicheren Umgebungen verhelfen: Dank ihnen kann man besser voraussagen, wie begehrt ein Produkt in den kommenden Jahren sein wird.
Doch sie können auch frustrieren. Im Frühling 2024 lancierten zwei amerikanische Hermès-Kunden eine Gerichtsklage, in der sie behaupteten, die «Birkin Bag» sei den zahlungskräftigsten Kunden vorbehalten. Die Klage hat den «Birkin»-Mythos nur weiter gestärkt.
In einem TV-Interview mit dem Vorwurf der künstlichen Verknappung konfrontiert, sagte Pierre-Alexis Dumas im Dezember 2024, diese «teuflische Marketingidee» bringe ihn zum Lachen. «Das kann nur von Leuten kommen, die vom Marketing besessen sind», sagte er, «was auch immer wir haben, wir stellen es ins Regal, und dann ist es weg.»
In orange Schachteln verpackt
Die Aussage von Dumas ist charakteristisch für die Familie, die laut Berichten einen «In-House-Philosophen» beschäftigt und wichtige Entscheidungen schon beim Abendessen fällte. Solche Eigenheiten gehören schlicht zu Hermès und schlagen sich auch im Produkt nieder. Um etwa das nach Schwarztee und Zigarren riechende Volynka-Leder zu entwickeln, studierte eine Arbeitsgruppe sechs Jahre lang ein russisches Leder, das aus einem Schiffswrack aus dem 18. Jahrhundert gerettet worden war. Hermès gibt solchen Unterfangen Zeit. Damit spricht es die Nerds an und die Superfans, die Sammlerinnen und die, die ständig nach mehr, nach «besser», nach «rarer» suchen.
Oft finden sie es bei Hermès, verpackt in leuchtend orange Schachteln. 2024 erwirtschaftete die Firma einen Umsatz von 15 Milliarden Euro, ein Wachstum von 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Und das in einem Jahr, in dem fast alle Luxuslabels mit ihren Umsätzen unter den Erwartungen blieben.
Kein Museum
Dass Hermès mit seinem Börsenwert nun selbst LVMH überholt hat, wird für Bernard Arnault einen bitteren Beigeschmack haben. Der Gründer und CEO des Luxuskonzerns hatte ab den frühen nuller Jahren ohne das Wissen der Hermès-Familie Anteile an deren Unternehmen aufzukaufen begonnen. Als diese Anteile zusammen 23 Prozent erreichten, drohte eine feindliche Übernahme. Nur knapp wurde diese abgewendet: Über fünfzig Mitglieder der Hermès-Familie einigten sich 2011, ihre Anteile zu einer Holdingfirma zu kombinieren. Bis heute besitzt diese die Mehrheit von Hermès. Die Episode ging als «Handtaschenkrieg» in die jüngere Modegeschichte ein und hat nun ein pointiertes Nachwort erhalten.
Nun sind mehr Augen auf Hermès gerichtet als je zuvor. Die Zeit mag ein klein wenig langsamer ticken an der Rue du Faubourg Saint-Honoré. Doch «wir sind kein Museum», pflegt Axel Dumas, seit 2014 CEO des Unternehmens, zu sagen. Im nächsten Jahr werden neue Werkstätten errichtet und Preise erhöht, auch aufgrund der Zölle in den USA. Und 2026 oder 2027 – der Zeithorizont ist charakteristisch weit gefasst – wird die Firma erstmals eine Haute-Couture-Linie lancieren. «Warum nicht?», sei ein Gedanke dahinter gewesen, sagte Dumas bei der Verkündung der Neuigkeit.